Berliner Turnerbund: Am Anfang stand der Wille zur Einheit.

 

Gründerjahre von 1945 – 1950

 

Als einer der letzten Berliner Sportverbände gründete sich der Berliner Turnerbund am 8. Januar 1950. Eine lange Zeit bis zur Gründung, waren doch gerade gegenüber den Turnern und Turnerinnen politische und ideologische Vorbehalte nicht nur von den alliierten Militärbehörden, sondern auch von den anderen Sportverbänden immer wieder vorgebracht worden. Die besondere Nähe der früheren Deutschen Turnerschaft zum Dritten Reich und seinem Führer gleich 1933 beim Deutschen Turnfest in Stuttgart, der reibungslose und eilfertige Übergang des damals größten Sportverbandes der Welt in den NS Reichsbund für Leibesübungen sowie die aus der Turnbewegung stammende und sofort von den Nazis übernommenen Vereinsdietwarte zur völkisch-ideologischen Erziehung aller Sportlerinnen und Sportler erschwerten die Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit und standen für eine noch nicht bewältigte Vergangenheit. So fielen gerade die Turnvereine als Hort des Faschismus und Militarismus unter das alliierte Vereinsverbot und die Auflösung aller Gliederungen des früheren NS Reichsbundes für Leibesübungen.

Berlin war 1945 nach der Kapitulation eine zerstörte, von Kriegsflüchtlingen überlaufene Stadt ohne intakte Infrastrukturen. Zwei Drittel der Turnhallen und Sportplätze lagen in Trümmern. Der Sport war für die Not leidende Bevölkerung und die durch Bandenkriminalität bedrohten Kinder und Jugendlichen eine wichtige Hilfe zum Überleben. Unter den Augen der alliierten Militärbehörden gründeten sich im Sommer 1945 die ersten kommunalen Sportgruppen, die dem Hauptsportamt und 20 Bezirks-Sportämtern unterstanden. Leiter der Sportgruppen und Sportämter waren unbelastete Sportfunktionäre, die überwiegend aus der vor 1933 bestehenden Arbeitersportbewegung sowie aus der alten SPD und KPD kamen. Innerhalb dieses  Kommunalsports bildeten sich nach dem Fußball, Handball und der Leichtathletik auch Turn- und Gymnastikgruppen, die am 24. Juni 1945 im Neuköllner Stadion beim ersten Sportfest der Nachkriegszeit auftraten. Am 29. Juli beteiligten sich Turnerinnen und Turner an der Umbenennung dieses Stadions in Werner-Seelenbinder-Kampfbahn. Ein Frauen-Sportfest, zu dem auch eine Stunde Kinderturnen und ein Handballspiel der Männer Tempelhof – Spandau gehörten, folgte am 5. August 1945. Dann kam es überraschend  zu einer Turnsperre durch die Alliierten: Am 19. November 1945 wurde das Turnen – ausgenommen Kindergymnastik – zusammen mit Boxen und Fechten sowie anderen des Militärsports verdächtigter Sportarten verboten, die Militärregierung beschränkte sich auf die Zulassung von nur noch 10 Sportarten. Dieses Verbot hatte nicht lange Bestand. Ab 18. März 1946 durfte wieder Gymnastik betrieben werden und wenige Monate später wurden die restlichen Sportarten wieder zugelassen und gleichzeitig Wettkämpfe über die Bezirksgrenzen hinaus erlaubt.

Zwei Gründungsmitglieder des späteren Turnerbundes, Erna Krüger und Erich Thierbach, haben uns zum 25-jährigen BTB-Jubiläum Zeitzeugenberichte und Interviews überlassen, auf die wir zurückgreifen wollen. Sie berichten über die erfolgreiche Arbeit der bezirklichen Sportgruppen, die sich im Januar 1947 unter der Leitung von Erich Thierbach zur Hauptsparte Turnen und Gymnastik beim Magistrat zusammenschlossen. In einem Technischen Beirat war neben Erna Krüger auch Anne-Lise Hintze, seit den zwanziger Jahren eine Vorkämpferin des Frauensports, vertreten. Die Hauptsparte Turnen und Gymnastik brachte den Kommunalsport richtig in Schwung: 1947 veranstaltete sie erste Rundenwettkämpfe im Jugend- und Frauenturnen, schrieb die ersten Berliner Meisterschaften im Gerätturnen aus und lud zu Kampfrichterschulungen ein. Höhepunkt war das Berliner Turnfest am 19./20. Juni 1948 in den Rehbergen, zu dem mehr Aktive als in den Folgejahren antraten. 1949 kamen 6.000 Besucher in die Waldbühne zum Schauturnen der besten Berliner und Westdeutschen Turner. Der Sportverkehr mit Ost-Berlin und der sowjetisch besetzten Zone war nach der Berliner Blockade nur noch unter größten Schwierigkeiten möglich. Erich Thierbach berichtet von einer Vielzahl von Genehmigungen, Dokumenten und Pässen, die dafür erforderlich waren und die Fortführung der vor der Blockade aufgenommenen Wettkampfbegegnungen mit Thüringen und Sachsen zum Erliegen brachten. Außerdem war der Sportverkehr mit der Britischen und Amerikanischen Zone von Ostdeutschland aus schwierig, einige Berliner Turner schwammen dazu durch die Elbe oder näherten sich auf Schleichwegen den Grenzen Westdeutschlands, um an Interzonenturnieren und den Wettkämpfen des Arbeitsausschusses Turnen – des Vorläufers des Deutschen Turner-Bundes – teilzunehmen. Sportbegegnungen mit Süddeutschland waren übrigens aus einem anderen Grund nicht möglich, da in der französischen Zone das Turnen noch lange Zeit verboten blieb.

Die große Wende in Berlin kam 1948 mit der Wiederzulassung des Vereinssports: Im Westsektor der offiziell noch unter Viermächtestatus stehenden Stadt wurden die ersten Sportvereine lizenziert, denen dann rasch die Zulassung von Sportverbänden folgte. Auch Turnfunktionäre aus der alten Deutschen Turnerschaft, dem HJ-, BDM- und KdF-Sport sowie bürgerlichen Sportvereinen der Vorkriegszeit kehrten – oft nach erfolgter Entnazifizierung – zurück und übernahmen Führungsaufgaben in den neuen Vereinen. Der bald einsetzende Kalte Krieg verhinderte weitgehend eine Auseinandersetzung mit ihren Biografien und zunehmend auch mit der Geschichte des Vereinssports zwischen 1933 und 1945 selbst. Entstehende Ähnlichkeiten zur Situation nach der deutschen Einheit sind rein zufällig.

Seit 1948 diskutierten die bereits lizenzierten Berliner Turnvereine die Notwendigkeit der Gründung eines allumfassenden Turnerbundes. Die am langjährigen Gründungsakt beteiligten 25 Vereine wollten einerseits die frühere Trennung zwischen Turnen und Sport vermeiden, also möglichst alle früher konkurrierenden parteipolitischen und konfessionellen Interessen in einem Bund zusammenführen, andererseits aber am Jahnschen Turnen als einem vielseitigen und volkstümlichen Angebot aller Arten von Leibesübungen festhalten. Heinz Andrae, der Gründungsvorsitzende des späteren Turnerbundes, hat dieses Wollen in der Berliner Turnzeitung so ausgedrückt: In langen, gründlichen und tiefschürfenden Diskussionen war klargelegt, dass wir keinen Zweckverband gründen, sondern basierend auf alter turnerischer Grundlage und Gesinnung, die Breitenarbeit leisten wollten, die den ganzen Menschen erfasst und von selbst zur Spitzenleistung führt. Damit war die Richtung klar: Es sollte kein Verband für Gerätturnen und Gymnastik werden wie in der Nazizeit, auch Leichtathleten, Handballer, Schwimmer, Fechter, Skiläufer und andere Sporttreibende sollten als Mitglieder von Turnvereinen unter dem neuen Dach bleiben können und vereint werden. Ein für die Folgezeit schwieriges Unterfangen, hatten sich doch zahlreiche ehemalige reine Turnvereine inzwischen zu Mehrsparten- und Großvereinen zusammengeschlossen und mehr in Richtung des Sports emanzipiert. Diese nannten sich jetzt Turn- und Sportverein, abgekürzt TSV, TuS oder TSC. Die später aufbrechenden Probleme des Bekenntnisses zum Bunde und der damit zusammenhängenden Mitgliederzuordnung traten erfreulicherweise in der Gründungsphase zu Gunsten der viel wichtigeren Einheit zurück.

Das Ziel der gesellschaftspolitisch bedeutsamen Einheit sahen die Gründungsväter des Turnerbundes in der Zusammenführung ehemals bürgerlicher Turnvereine mit denen der früheren Arbeitersportbewegung. Dazu gehörten auch die (kommunistischen) Fichteturner, die Integration konfessioneller Gruppen (DJK, Eichenkreuz), der akademischen Turnvereinigungen, auch der so genannten Deutschen Turnvereine (die schon um die Jahrhundertwende den Arierparagraphen eingeführt hatten) und der neu gegründeten Turngruppen der Heimatvertriebenen. Alle sollten sich unter dem Dach des neuen Bundes wieder finden. Das bedeutete die weitgehende Tolerierung parteipolitischer und weltanschaulicher Unterschiede bei der Neugründung, so übrigens auch schon bei der vier Monate zuvor stattgefundenen Gründung des Sportverbandes Groß-Berlin aus 340 Sportvereinen postuliert und ähnlich bei der 1950 folgenden Gründung des Deutschen Sportbundes als Einheitssportverband vollzogen. Der erst Bundespräsident, Prof. Dr. Theodor Heuss, hat diesen Willen zur Einheit der Turner einmal so ausgesprochen: Es gibt keinen ‚proletarisch-marxistischen Klimmzug’ und keinen ‚bürgerlich-kapitalistischen Handstand’. Dieser Einheitswille prägte die Gründung des Berliner Turnerbundes. Während des Kalten Krieges mit andauernden Ost-West-Auseinandersetzungen sowie der später im geteilten Berlin umgehenden Angst vor Ost-Agenten und Unterwanderung sollte dieser liberale Grundsatz der Einheit noch mancher Bewährungsprobe ausgesetzt werden. Am Ende dieser nicht ohne Emotionen und schmerzenden Rückblicke in die Vergangenheit geführten Diskussionen stand schließlich und endlich am 8. Januar 1950 in der Roten Veranda der Zoo-Terrassen die Gründung des Berliner Turnerbundes. In Anwesenheit zahlreicher Ehrengäste, Vertretern des Magistrats, des Sportverbandes und befreundeter Verbände verabschiedeten 27 Vereine die Satzung des Turnerbundes. Als 1. Vorsitzender wurde Heinz Andrae (der Sportwart und spätere Geschäftsführer des Sportverbandes Berlin) gewählt. Stellvertretender Vorsitzender wurde Kurt Böttcher, Oberturnwart Erich Thierbach, Jugendwart Hans Bodensiek, Frauenturnwartin Erna Krüger, Pressewart Fritz Darkow und Schriftwartin Erika Schulz. Die bei der Gründung versammelten Turnvereine vertraten 12.500 Mitglieder, von denen mehr als 60 % Kinder und Jugendliche waren. Als erste große gemeinsame Tat einigte man sich, am 26. und 27. August 1950 im Neuköllner Stadion das erste Bundesturnfest zu veranstalten. Das Wagnis gelang: 3.000 Aktive traten zu den Wettkämpfen an, 1.000 Frauen und Mädchen zeigten Gymnastikvorführungen und Tänze, 6.000 Turnerinnen und Turner nahmen am großen Festzug durch die Straßen Neuköllns teil.

Diese große Manifestation der Turnvereine stärkte auch das Selbstbewusstsein gegenüber den anderen inzwischen gegründeten Sportfachverbänden und führte dazu, dass der Berliner Turnerbund für die Beibehaltung eines Verbandes des Vereine des 1949 gebildeten Sportverbandes Groß-Berlin eintrat. Die vom Turnerbund geführte Vereinsfraktion unterlag im Jahre 1951 in knapper Mehrheitsentscheidung, der Sportverband (heute Landessportbund) Berlin wurde in einen Verband der Verbände umgewandelt.

Der Berliner Turnerbund verteidigt seitdem seine Autonomie als Dachverband und die nach wie vor von seinen Mitgliedern betriebenen Sportarten. Die inzwischen erfolgte Umbenennung in Berliner Turnerbund – Verband für Turnen, Gymnastik und Freizeitsport dokumentiert dieses.  Alte Streitigkeiten zwischen Turnen und Sport traten immer dann auf, wenn es innerhalb des Berliner Sports um Mitgliedszahlen und finanzielle Förderungen ging. In der Anfangsphase des Turnerbundes war es selbstverständlich, dass sich die Turnvereine mit allen Mitgliedern beim BTB anmeldeten, was dann noch zusätzliche Beitragszahlungen bei anderen Fachverbänden und damit statistisch gesehene Doppelmitgliedschaften oder den Abschluss von Freundschaftsverträgen, so mit dem Berliner Leichtathletik-Verband und dem Berliner Schwimm-Verband, auslöste.

Die dynamische und expansive Entwicklung des Kinder- und Frauenturnens, der Turnspiele, schließlich der Aerobicbewegung, der Gruppentwettstreite der Turnerjugend und jetzt des Freizeit- und Gesundheitssports lässt diesen früheren Kampf um Mitglieder inzwischen vergessen. So ist heute die Zeile des alten Turnerliedes Großes Werk gedeiht nur durch Einigkeit weitaus eher angebracht, als jenes Turner auf zum Streite, welches oft nicht den fairen Wettstreit, sondern das missbräuchliche Streiten mit Worten meinte.

Eine Einschätzung, die im ersten Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends mit der erneuten Umbenennung des Berliner Turnerbundes in Berliner Turn- und Freizeitssport-Bund (BTB) weiterhin von Bestand bleibt.

 

Erstveröffentlichung in“Geturnt, geturnt und nicht als geturnt…“, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Berliner Turnerbundes im Jahr 2.000.

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