Ein Beitrag zum politischen „Bildersturm“ in Berlin-Neukölln
Die große Freifläche vor dem Jahn-Denkmal im Neuköllner Volkspark Hasenheide eignet sich nicht nur für Sportvorführungen und Turnfeste, sondern auch als Ort vielfältigster politischer Demonstrationen. Hier haben die legendären Berliner Bürgermeister Ernst Reuter und Willy Brandt gemeinsam mit Bundesministern und Persönlichkeiten aus Sport und Politik Jahns Verdienste um die Einheit, Freiheit und Demokratie und seine Tätigkeit als Abgeordneter des ersten deutschen Parlaments von 1848 hochgehalten. Freiheitsläufe der Bundesländer und der Europäischen Union wurden vor dem Jahndenkmal gestartet. Das Berliner Jahn-Denkmal und das an der Rixdorfer Höhe stehende Denkmal der Trümmerfrauen sind Ikonen der Sport- und Berlin-Geschichte.
Es kommt einem vor, als wenn seit der friedlichen Revolution und der wiedergewonnenen Einheit die Person Jahns ‚abgehakt‘ wurde und nun wieder wie seit 200 Jahren die weniger hellen Flecken seiner bewegten Biografie herausgekehrt werden. Das geht hin bis zum Zugriff auf alte NS-Narrative oder die vor 1933 aggressiv geführte „völkische Turnfehde“ zwischen den deutschen und den antisemitischen österreichischen Turnverbänden der Kaiserzeit und Nachkriegsrepublik. Das der von Jahn begründete Vereinssport heute immaterielles Weltkulturerbe der Unesco ist, wird von Kritikern nicht erwähnt. Auch hat er die soziale Offensive des Sports durch eigenes Vorbild begründet.
Zur 200. Wiederkehr der Gründung des ersten Turnplatzes fand 2011 ein Symposium im Haus der „Turngemeinde in Berlin von 1848“ statt. Gleichzeitig wurde eine zweisprachige Infotafel zur Geschichte des Turnplatzes, zur Person Jahns und dessen Denkmal in der Hasenheide enthüllt. Vom Bezirksamt und dem „Museum Neukölln“ wurde bei „Karstadt am Hermannplatz“ eine Ausstellung „200 Jahre Turnplatz Hasenheide“ eröffnet.
Für Berlins autonome Szene ist das Jahn-Denkmal ein beliebter Ort für Auseinandersetzungen mit dem demokratischen System und der ‚Obrigkeit‘. Zum Internationalen Deutschen Turnfest 2017 musste die damalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey, von nächtlichen Beschädigungen des Denkmals berichten, die gerade noch vor der Veranstaltung beseitigt werden konnten. Die Festrede hielt übrigens Rainer Brechtken, der Ehrenpräsident des Deutschen Turner-Bundes, der vor der internationalen Öffentlichkeit zur Person des Turnvaters Dank und Kritik einforderte. Für die Bundesregierung sprach die Bundesinnenministerin Brigitte Zypries.
Das Denkmal ist leider dem Vandalismus unterschiedlichster Gruppen der durch die Drogenszene geprägten Hasenheide ausgesetzt. Das war für den Berliner Turn- und Freizeitsport-Bund der Grund die unter Denkmalschutz stehenden Anlage an den Bezirk zurückzugeben. Ein geplantes Turnmuseum blieb auf der Strecke, die nachgebauten historischen Turngeräte wurden entsorgt. Seitdem ist das Bezirksamt immer wieder gefordert, das Denkmal in Stand zu setzen. Gedenksteine wurden inzwischen zerstört oder beschädigt, die Steinbeile aus dem Bodensee sind verschwunden, die Sicherheitsfrage ist aktuell. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der seit 30 Jahren neben dem Denkmal im Bau befindliche Hindutempel mit seinen goldverzierten Dächern und Säulen eines Tages durch Zäune und Wachschutz abgesichert werden muss. Hier wäre eine Einbeziehung des Jahn-Denkmals vonnöten und möglich, um es nicht dem Verfall zu überlassen. Man stellt sich natürlich die Frage, ob das einem von der Bevölkerung viel genutzten Volkspark dienlich ist.
In jüngster Zeit haben Kundgebungen zum Internationalen Frauentag in der Hasenheide das über dem Platz thronende Denkmal des Turnvaters nicht verschont. Diesmal ging es um den Vorwurf des Anti-Feminismus, dem man dem vor fast 200 Jahren verstorbenen Jahn nachsagen wollte. Eigentlich hätte man auch vor dem Neuköllner Rathaus gegen die Stadtverordneten der Kaiserzeit demonstrieren können, die den Frauen erst 1919 das Wahlrecht ermöglichten. Aber in der Hasenheide zu Füßen Jahns gab es mehr Platz und mediale Aufmerksamkeit. Das sich bereits 1978 beim Internationalen Jahn-Symposium in der Berliner Kongresshalle Frau Prof. Dr. Pfister mit dem zeitgenössischen Frauenbild Jahns tiefschürfend und kritisch auseinandergesetzt hat, wird heute unterschlagen. Dem Deutschen Turner-Bund gehören heute 5 Millionen Mitglieder an, davon 3 Millionen (!) Mädchen und Frauen. Er steht für eine Kontextualisierung des Jahnschen Frauenbildes und hat 2019 die Person Jahns in den Fokus einer wissenschaftlichen Tagung genommen. Hinweise, die von den Aktivistinnen nicht dankbar angenommen, sondern unterschlagen werden.
Seit 2022 werden die Mitglieder der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung mit einem Antrag der Fraktionen der Grünen und Linken konfrontiert, das Jahn-Denkmal im Extremfall abzureißen und die benachbarte Jahn-Sporthalle umzubenennen. Das passiert im Zusammenhang mit Planungen des Bezirksamtes, die Hasenheide ökologisch neu zu gestalten und auf (natürlich begrenzte) Sondermittel zurückzugreifen. Beide Anträge haben sich durch das Berliner Wahldebakel und die gerichtlich angeordneten Neuwahlen nicht erledigt, sondern stehen nach wie vor auf der Tagesordnung des Bezirksparlaments. Inzwischen auch ergänzt von einer noch nicht beantworteten Anfrage der AfD. An die Fraktionen gerichtete Protestschreiben wurden nicht beantwortet. Auch gibt es keine erkennbaren Reaktionen auf die von Gerd Steins 2023 in größerer Anzahl übermittelten, 216 Seiten umfassenden Bände „Flegel, Sonderling und Turnvater – Vom Umgang mit Friedrich Ludwig Jahn“ und den beigefügten Quellenhinweisen. Neue Aussagen der Links-Fraktion, die bei den letzten Wahlen stärker geworden ist, liegen aktuell nicht vor, hier war eine Umbenennung der Jahn-Sporthalle auf Ausschussebene abgelehnt worden.
Die Berliner Tagespresse hat längst ihr Urteil über diese Ansichten gefällt, in Blitzumfragen haben drei Viertel der Leserinnen und Leser für Jahn, also den Erhalt seines Denkmals und des Namens der Sporthalle gestimmt. Das Ergebnis entspricht früheren Umfragen, als es um eine Umbenennung des Friedrich-Ludwig-Jahn Sportparks in Pankow ging. Der Onlinedienst von „Cicero“ spricht von einem „Grünen Säuberungsfuror“ der deutschen Geschichte.
In einem die Anträge kritisierenden Lesebrief im Tagesspiegel vom 11. Dezember 2022 wurde ohne redaktionelle Prüfung die Meinung eines stadtbekannten Rechtsradikalen hervorgehoben abgedruckt, während ein Leserbrief von Ingo Peschel vom Vorstand der Jahn-Gesellschaft nicht veröffentlicht wurde.
Der Landessportbund Berlin hat das Bezirksamt Neukölln durch ein Statement zu Jahn unterstützt. Ein am 7. Dezember 2022 verfasstes Papier wurde der zuständigen Bezirksstadträtin für die anstehenden Sitzungen der Gremien übermittelt. Außerdem erschien im LSB-Magazin „Sport in Berlin“ ein Beitrag über den Neuköllner Bildersturm unter der Überschrift „Was hat der ‚Turnvater‘ mit Demokratie und Freiheit zu tun?‘ (Ausgabe 03-2023).
Die Aktivisten und Aktivistinnen unterschiedlichster Couleur hält das nicht davon ab, immer wieder Jahn zum Feindbild zu erklären. Es fehlen ihnen neben dem historischen Tiefgang die erforderlichen wissenschaftlichen Begründungen, einer schreibt vom anderen ab, keiner geht in die Archive, es wird verleumdet, was das Zeug hält. So wird der Mainstream am Laufen gehalten. Einige Beiträge dieses Reports gehen darauf näher ein.
Das Bezirksamt hat erstmals am 7. Februar 2023 in den BVV-Ausschüssen zu den Anträgen Stellung genommen und auf die laufenden Umbenennungen von Straßen, zum Beispiel der Wissmannstraße innerhalb der Kolonialdebatten, hingewiesen und erklärt, „dass auch der Umgang mit Jahn einer zeitkritischen und entsprechend differenzierten wissenschaftlichen Einordnung bedarf, was einen entsprechenden Beteiligungsprozess erfordere“. Von Seiten des Netzwerkes Frauen in Neukölln wurde ebenfalls eine Diskussion präferiert, die nicht unbedingt zur Entsorgung des Denkmals führen muss: „Hier sei der Diskussionsprozess wichtiger als das letztliche Resultat“.
Das hört sich weitaus weniger aggressiv an, als es danach und heute gegenüber der Öffentlichkeit verfolgt wird. Jetzt heißt das Motto „Jahn muss weg!“. Dafür hat man sich zwei Mitglieder der Abgeordnetenhausfraktion der Grünen mit ins Boot geholt. Eine der Abgeordneten, Frau Dr. Kahlefeld, hat neben dem Vorwurf des Anti-Feminismus die „Antisemitismuskeule“ hervorgeholt und es in einer öffentlichen Veranstaltung „als Zumutung bezeichnet, wenn jüdische Menschen und Frauen an dem Denkmal vorbeigehen müssten“. Ihr fehlt jegliches Wissen über die deutsche und jüdische Sportbewegung, die beide auf Jahn zurückgreifen. Eine der Wahrheit verpflichtete Abgeordnete verbreitet Fake-News und hält es nicht für nötig, sich vorher zu informieren oder im renommierten „Handbuch des Antisemitismus“ unter J wie Jahn nachzuschlagen? Das Team des Museums Neukölln reagierte entsetzt ob dieser diffamierenden Aussage. Es verweist inzwischen auf einen noch für dieses Jahr geplanten Workshop zum Thema Antisemitismus. Ein Vorschlag von hoher aktueller Bedeutung.
Dem Museum Neukölln und dessen Leiter und Beauftragten für Erinnerungskultur, Dr. Matthias Henkel, kann man dankbar beipflichten, sich des Turnvaters in einer noch bis zum September gezeigten Ausstellung „Denk Mal Jahn“ im Schloss Britz anzunehmen. Das passiert wissenschaftlich korrekt und ohne ideologische Zwänge, also professionell. Zwei angestellte Museumslehrer gehören zum Team, die mit Schulklassen und bei Führungen museumspädagogisch vorgehen und auch den bereits erwähnten Workshop leiten werden. Beim Hearing vom April – siehe Berichte – kamen alle Jahn-Kontrahenten zu Wort und haben einen demokratischen Diskurs – die Bemerkungen der zuvor zitierten Abgeordneten ausgenommen – eröffnet. Rainer Brechtken und Ingo Peschel berichten darüber.
Eine wissenschaftliche Biografie Jahns wird es nach Ansicht der Zeitgeschichtler nicht geben, dazu sind die Beurteilungen seines Handelns und seiner Schriften zu unterschiedlich und durch die jeweiligen politischen Systeme missbraucht worden. Auch ist das Jahn-Bild zwischen Ost und West und seine Bedeutung weltweit – auch unter Gesichtspunkten der Dekolonialität – noch nicht ansatzweise untersucht.
Der seit dem 19. Jahrhundert andauernde Streit um den Turnvater wird nicht abgeschlossen werden, wohl aber kann im zweiten Jahrtausend der demokratische Diskurs neu geübt werden. Dazu ist ein Zugriff auf Primärliteratur und Originaldokumente vonnöten, deren Studium und Kenntnis der nachfolgenden Generation Z nicht erspart werden kann. Hier ist Wissen gefragt, um mitreden zu können und auch zu dürfen. Schließlich geht es um den Erhalt unserer Demokratie, die mündiger Bürgerinnen und Bürger bedarf.
Langfassung
Erstveröffentlichung
im „Jahn-Report“ der Jahn-Gesellschaft Freyburg/Unstrut
Ausgabe Nr. 60 – August 2025