Vom 11. August bis 8. September 1943 fand im Neuköllner Rathaus eine Ausstellung zum 165. Geburtstag von Friedrich Ludwig Jahn statt. Mitten im Krieg, nur wenige Monate nach der Katastrophe von Stalingrad und der antreibenden Goebbels-Rede im Berliner Sportpalast.
Als geborener Neuköllner und Mitglied eines örtlichen Sportvereins stelle ich mir folgende Fragen:
Was sollte und wollte diese Ausstellung im Bombenhagel?
Hatte die Bevölkerung nichts Besseres zu tun, als sich eine Sportausstellung anzuschauen?
Was hatten Jahn und die Hasenheide mit dem Krieg zu tun?
Für den Kreis der an der Zeitgeschichte des Sports Interessierten verbindet sich mit diesen Fragen ein museumspädagogischer Auftrag: Wie können wir junge Leute zum Nachdenken anregen und ihnen ‚Vergangenes‘ möglichst spannend vermitteln?
Im Jahr 2014 erinnern sich Historiker, Politiker und Journalisten der 100. und 75. Wiederkehr des Ausbruchs der beiden Weltkriege. Auch des Mauerfalls vor 25 Jahren wird gedacht. Für die Verantwortlichen der Sportmuseen und Archive reicht es meines Erachtens nicht aus, ins Depot zu steigen, Exponate und Dokumente in Vitrinen zu legen, Projektoren anzuwerfen und Stellwände mit Informationen zu füllen. Unsere „Kunden“ haben Anrecht auf mehr. Wir sollten unsere Besucher und die mit Smartphones bewaffneten jungen Leute neugierig auf ‚Sportgeschichte‘ machen. Zum Beispiel, indem wir ihnen ‚Sportgeschichten‘ erzählen. Also den Versuch zu machen, in ihre Lebenswelten einzudringen und ihnen Personen, Ereignisse, Hintergründe und Fragen ganz persönlich nahezubringen.
Ich benutze dafür stellvertretend die Jahn-Ausstellung von 1943 in Berlin. Ähnliche historische Ereignisse und Orte lassen sich überall finden – es gibt zum Beispiel kaum eine Stadt oder Kommune ohne Jahnstraße, ohne Schulen, Sportstätten, Vereine und Gedenksteine, die den Namen des Turnvaters tragen.
Didaktisch-methodisch ist das Internet eine große Hilfe. Es liefert zur Sportgeschichte alle wichtigen und unwichtigen Informationen, auch Fotos, Biografien und alte Wochenschauen. Regionale Tageszeitungen liegen in den Heimatarchiven und Bibliotheken als Original, mitunter schon digitalisiert. Vereinszeitungen von 1933 bis 1945 sind seltener zu finden. In Berlin wurden sie wegen der Hakenkreuze und aus Angst vor den herannahenden Russen schnell noch verbrannt. Damit ging viel Wissen über die NS-Zeit der Sportvereine verloren. Unsere Eltern und Großeltern waren oft nicht sehr gesprächig.
Neukölln und die Jahn-Ausstellung
Bevor ich zum schwierigen Wie und Warum komme, nun einiges über die Ausstellung und das journalistische Wer, Was, Wann und Wo meines Themas.
Ich weiß nicht, ob Sie Neukölln, einen der größten Bezirke Berlins kennen. Neukölln liegt im Süden von Berlin, es hieß Rixdorf, als Jahn 1811 in der Hasenheide seinen pädagogisch betreuten Abenteuerspielplatz errichtete. 1912 genehmigte der Kaiser den Namen Neukölln, seit 1920 gehört Neukölln zu Groß-Berlin. Heute leben dort 310.000 Einwohner, also etwas mehr als in Bonn. 150 Sportvereine sorgen für Bewegung. Es gibt eine Jahnstraße, einen Jahnsportplatz, eine Jahnsporthalle. Der Neuköllner Bürgermeister behauptet in einem Bestseller: Neukölln ist überall.
Am 11. August 1943 wurde im großen Sitzungssaal und in der Eingangshalle des Rathauses die Jahn-Ausstellung eröffnet. Veranstalter waren die Reichshauptstadt, der NS Reichsbund für Leibesübungen und der Bezirk. 160 sehenswerte und seltene Objekte aus dem Leben Jahns und der Turnbewegung hatte man zusammengetragen.(1) Zur gleichen Zeit verlagerten die Berliner Museen und Archive ihre Schätze wegen der Bombenangriffe in Bergwerke und abgelegene Schlösser. Man drehte in Neukölln mit Jahn ein ganz großes Rad, auch noch nachdem zehn Tage vorher die Briten Flugblätter abgeworfen und die Bevölkerung vor großen Flächenangriffen wie in Hamburg gewarnt hatten. (2)Der Saal des Rathauses war bis auf den letzten Platz gefüllt: Die Berliner Vereinsführer und Vertreter des NS-Sports waren erschienen. Ganz vorn die Funktionäre der Partei und der Massenorganisationen SA, SS, HJ, BDM, NS Frauenschaft, Lehrer- und Studentenbund, natürlich auch die für die politische Erziehung der Sportler und Sportlerinnen von der NSDAP ernannten und ausgebildeten ‚Dietwarte‘ (3) der Sportvereine.
Die Staatskapelle eröffnete mit Beethoven, der Bürgermeister des Bezirks, Kurt Samson, sprach über das baldige Kriegsende und die großen Pläne, in der Hasenheide eine nationale, ja weltweite Gedenkstätte der in Deutschland begonnenen Sportbewegung zu errichten. Dazu sollten neue Sportanlagen und die Rekonstruktion des alten Turnplatzes mit den von Jahn erfundenen Turngeräten gehören. Er schloss seine Begrüßung mit dem Losungswort der Hasenheide-Turner „Glück auf zum Freiheitskampf! Nieder mit dem Feind!“. Eine Durchhalterede.
Über den Vortrag des Chefideologen des Amtes Rosenberg und Professors für Philosophie und politische Pädagogik der Universität Berlin, Dr. Alfred Baeumler, schrieb der Berichterstatter: „Die Zuhörer lauschten ihm atemlos und dankten ihm durch starken Beifall“. Baeumler beschrieb Jahn als Mann aus dem Volk, dessen wahre Persönlichkeit und wirkliche Bedeutung durch den von der Turnerschaft geprägten Begriff des ‚Turnvaters‘ und der ihm zugeschriebenen Schwächen bisher nur unzureichend erkannt und gewürdigt wurde. Er stellte seinen Zuhörern einen heroischen und politischen Jahn vor, der seiner Zeit weit voraus war und durch das Turnen einen durch das Volk begründeten Staat herbeisehnte. Diesmal verglich er Jahn nicht mit Luther, Bismarck oder Hitler, sondern mit dem Arzt Paracelsus. Wahrscheinlich wegen des Spielfilms der Bavaria, der 1943 gerade mit großem Erfolg in die Kinos gekommen war. Die Baeumlersche Definition Jahns als Volkserzieher und politischer Führer war seit der Turnfestrede Hitlers von 1933 politisch korrekt. Fazit der Baeumler-Rede: Jahn der Entdecker des ‚Volkstums‘, damit früher Nationalsozialist, voraussehender politischer Pädagoge und erfolgreichster Vorkämpfer für das ‚Reich‘ und eine lebendige Verbindung zwischen Volk und Staat.
Einen umfangreichen Ausstellungskatalog gibt es (s.a. Abbildung). Im Mittelpunkt standen Jahns Schriften, Pläne und Zeichnungen der Hasenheide, die Akten des Jahn-Prozesses vor dem Kammergericht, bisher nie gezeigte Dokumente aus Berlin und Freyburg, Bildnisse und Karikaturen sowie persönliche Gegenstände aus Jahns Besitz.
Ausstellungskatalog und Jahn-Postkarte 1943
Leihgeber waren die Berliner Stadtbibliothek mit der Göritz-Lübeck-Stiftung, der NS Reichsbund für Leibesübungen und das Jahn-Haus in Freyburg an der Unstrut. Dazu kamen einige Einzelobjekte aus dem Geheimen Staatsarchiv, vom Bezirksamt sowie von privaten Leihgebern wie Erich Mindt, dem Leiter des von den Nazis 1934 geschlossenen Berliner Sportmuseums. Auch Leihgaben der 1865 und 1887 gegründeten Neuköllner Turnvereine Jahn und Friesen waren dabei.
An Büchertischen lagen die aktuellen Publikationen über Jahn aus. So der quellenreiche, im Olympiajahr 1936 erschienene Roman von Bruno Paul Schaumburg und das ideologische Jugendbuch von Franz Bauer. Hinzu kam ein druckfrisches ‚Tornisterbuch‘ des Blut- und Bodenschriftstellers Friedrich Bubendey, der das Fromm von Jahns vier F mit kämpferisch, militärisch aktiv übersetzt hatte. Es konnte damit sofort mit der Feldpost an die Soldaten gehen. (4)
Aktuelle Jahn-Literatur 1933 – 1945
Natürlich waren Hitler und Jahn in der Ausstellung auch in 3 D zu sehen. Im Halbdunkel eines Ehrenhofs standen sich die angestrahlten Büsten des Führers und des Turnvaters gegenüber, bekrönt von den auf der Empore aufgestellten Fahnen des Reichsbundes und der Vereine. Der Rundfunk übertrug den Festakt und begleitete junge Leute beim Rundgang durch die Ausstellung. Die Reportage ist nicht mehr vorhanden, aber ein Foto des Ullstein Bilderdienstes habe ich gefunden. Es zeigt Jugendliche mit der ‚großen Klappe‘, mit der die Hasenheideturner zum Dienst – zur Kür – gerufen wurden. (4) Frau Dietz wurde mit diesem holzwurmfreien Relikt von 1811 im Januar 2014 als neue Leiterin des Jahn-Museums eingeführt.
Kurz und knapp: Die Ausstellung signalisierte Normalität, Heldentum aus vergangener Zeit und damit Ansporn für den laufenden Krieg, also Stärkung der Volksgemeinschaft und Heimatfront. Zehn Jahre nach dem Stuttgarter Turnfest von 1933 und fünf Jahre nach dem Breslauer Turn- und Sportfest waren die Gleichschaltung der früher selbständigen Sportverbände im ‚NS Reichsbund für Leibesübungen‘ mit der von vornherein angestrebten Abrichtung und Erziehung zur ‚Wehrhaftigkeit‘ eingetreten (s.a. Abbildung).
Jahns Eisernes Kreuz und der Wladimir-Orden waren in einer Vitrine ausgestellt. Jahn war Vorbild und Held für den Endsieg. Kein Wunder, dass Schulklassen, HJ- und BDM-Gruppen sowie Parteigliederungen und Sportvereine täglich in Scharen durch die Ausstellung geführt wurden.
Das Neuköllner Tageblatt und die Zeitung NS-Sport berichteten ausführlich. (6)
Publikationen 1938 (Breslau) und 1944 (Berlin)
Schutt und Asche
Wenige Wochen nach der Ausstellung begannen die angekündigten, verheerenden Flächenangriffe auf Berlin. 700.000 Frauen mit kleinen Kindern, darunter auch ich, wurden evakuiert. Nach dem Kriegseintritt der USA sank Berlin dann 1944/45 endgültig in Schutt und Asche. (7)
Im März 1945 stieg fünf Minuten vor zwölf noch einmal der Turnvater, jung und sehr kriegerisch, als möglicher Retter und Befreier aus den Trümmern.
Auf Befehl Hitlers wurde in Jüterbog, südwestlich von Berlin, die Division ‚Friedrich-Ludwig-Jahn‘ aufgestellt. Sie sollte Berlin als Teil der Armee Wenk vor den Russen retten. 8.500 Soldaten sollten den Krieg gewinnen. Die jungen Männer zwischen 17 und 19 Jahren kamen überwiegend aus dem Reichsarbeitsdienst und traten am 20. April 1945 – Hitlers Geburtstag – ihren Dienst an der Front an. Ihr Krieg dauerte bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 nur 19 Tage. Viele von ihnen fielen oder kamen östlich der Elbe, zwischen Potsdam und Berlin-Wannsee in Gefangenschaft. (8)
Erinnerungen an die Division Friedrich-Ludwig-Jahn
Das Neuköllner Rathaus brannte im Mai 1945 aus. Bürgermeister Samson ging nur deshalb in die Geschichte Neuköllns ein, weil er sich geweigert hatte, das Rathaus zu verteidigen. Es ist längst wieder aufgebaut.
Neuköllner Rathaus 1945 und 1955
Das wären die ersten vier Ws, nun die Fragen nach dem Warum. Damit bin ich bei der „Museumspädagogik“, die alle Museumsleute und Lehrer fordern, aber kaum jemand finanziert.
Wie fragen wir nach dem Warum?
Wie können wir das ‚Erzählen von Sportgeschichten‘ und deren ‚Weitererzählen‘ am besten fördern? Mein Vorschlag, vor allem durch Einzelprojekte und Gruppenarbeit, so wie wir sie aus der außerschulischen Bildungsarbeit kennen. Zielgruppen sind neben den Sportorganisationen vor allem Schulklassen, Leistungskurse Sport oder – falls noch möglich – auch Studenten. Dazu benötigen wir vom Museum zusammengestelltes Material, mehrere PC-Arbeitsplätze, Hinweise auf Archive und Bibliotheken. Zeitzeugen und Teamer sollten verpflichtet und Exkursionen zu authentischen Orten vorbereitet werden. In großen Museen gibt es für junge Besucher schon eigene Websites und Museums-Apps. (9) Hauptziel muss bleiben, Interesse zu erwecken und Emotion mit rationalen Erkenntnissen zu verbinden. Museumspädagogik darf nicht langweilig sein.
Als Partner sehe ich neben den öffentlichen und privaten Schulen die von unterschiedlichen Trägern geleiteten Jugendbildungsstätten und Sportschulen. Aber auch regionale Heimatmuseen, Kietzinitiativen, Geschichtsvereine und Volkshochschulen sind denkbar. Die in allen Bundesländern geltenden Gesetze zur Teilnahme an Bildungsveranstaltungen – Stichwort eine Woche Bildungsurlaub – erfassen Jung und Alt. Sie helfen bei der Rekrutierung und Finanzierung von Projekttagen und Wochenveranstaltungen. Kooperation ist hier das Zauberwort zum Erfolg.
Eine Feststellung: Wir leben seit 50 Jahren im Frieden, aber Krieg und Kampf, Sterben und Leid von Zivilisten drängt täglich aus Syrien und dem Nahen Osten auf unsere Bildschirme. Was bleibt davon in unserem Gedächtnis haften und erreicht uns wirklich? Wir sollten uns immer die dafür erforderliche Zeit nehmen. Das ist nach meinen Erfahrungen in fünf Tagen Bildungsurlaub möglich. Mitunter besser als im Geschichtsunterricht der Schulen, der in einigen Bundesländern leider gerade reduziert wird.
Nun zum ‚Wie‘ und ‚Warum‘ in der Praxis. Für die Projektarbeit eignen sich am Beispiel der Jahnausstellung drei Themen:
- Die ‚Lebenswelten‘ von Kindern, Jugendlichen und Frauen im Jahr 1943.
- Das ‚Jahn-Bild‘ der Protagonisten des NS-Sports. Daran anschließend die Frage
- Was überlebte davon 1945 in Ost und West und 1990 im vereinten Deutschland?
Die Lebenswelten 1943
Die Schlagzeilen des Neuköllner Tageblattes künden 1943 von abgeschossenen Russenpanzern, siegreichen Schlachten und Niederlagen sowie immer neuen Kampfappellen und Endsieg-Parolen. Für die Teamarbeit denke ich aber mehr an die kleinen Meldungen über den Alltag, die zu Geschichten zusammengetragen werden können. In der Anlage habe ich Ereignisse als mögliche Beispiele einer derartigen Gruppenarbeit ausgewählt (s.a. Ergänzende Materialien).
Darunter sind Berichte über Alltägliches, auch Banales wie der Anbau und das Einsammeln von Feldfrüchten aus den Laubenkolonien. Aber auch die Meldungen über die nächtlichen Luftangriffe, die Bekanntgabe der aktuellen Verdunkelungszeiten, der Hinweis auf öffentliche Versteigerung von ‚Judenmobiliar‘, der Warnung vor Sportkameradschaft mit Zwangsarbeitern und der Rettung eines behinderten Kindes durch eine mutige Ärztin, die ich persönlich noch kennengelernt habe. (10) Diese von den Gruppen selbst recherchierten Geschichten sind das eigentlich Spannende und öffnen einen Blick in das soziale Miteinander der Kriegszeit. Sie motivieren junge Menschen, ihre Eltern und Großeltern nach deren Erlebnissen zu fragen.
Schlagzeilen 1943
Die NS-Protagonisten
Zum ‚Jahn-Bild‘ in der NS-Zeit ist der Klick zu Wikipedia oder Professor Google, wie man so schön sagt, zielbringend. Für eine Gruppen-Recherche sind Originaltexte und Zitate aus der Dokumentation von Prof. Dr. Hajo Bernett ‚Der Sport im Nationalsozialismus‘ unentbehrlich, eine Neuauflage durch Teichler und Bahro liegt vor. (11) Die Durchsicht der Jahresbände 1933 der Deutschen Turnzeitung und für Berlin der Märkischen Turn- und Sportzeitung ist spannend und entlarvend zugleich. Für mich war sie beklemmend.
Bücherverbrennung am 10. Mai 1933
Bei den Personen und Biografien mache ich den Gruppen Vorschläge. Zur ‚Jahn-Ausstellung‘ eignen sich vier NS-Protagonisten: Prof. Dr. Alfred Baeumler (12), Thilo Scheller (13), Dr. Edmund Neuendorff (14) und Hans von Tschammer und Osten (15). Sie zeigen ein Abbild des Sports in der NS-Zeit, dessen Menschenverachtung, Fanatismus und Opportunismus. Vier widersprüchliche und damit gut zur Diskussion geeignete Lebensläufe. Der Festredner vom 11. August 1943, Alfred Baeumler, ist jener Professor, nach dessen erster Vorlesung am 10. Mai 1933 die Studenten zum Berliner Opernplatz zogen, um ‚wider den undeutschen Geist‘ 20.000 Bücher zu verbrennen. Goebbels hielt vor 70.000 Beteiligten seine berüchtigte Feuerrede und gab den Auftakt für die reichsweit vorbereiteten Bücherverbrennungen, eine der schwärzesten Stunden deutscher Kultur (s.a. Abbildung). Baeumler hat sich davon nie distanziert, nach dem Krieg aber alles zwischen 1933 und 1945 Gesagte und Geschriebene als ‚Irrtum‘ erklärt. Er hatte sich in der NS-Zeit auch mit den Leibesübungen und speziell mit Jahn und dessen Beitrag zur Geistesgeschichte beschäftigt. Zusammen mit seinem Musterschüler aus Dresden, Dr. Heinz Wetzel, war er Haupt-Autor der vom Reichssportführer herausgegebenen Schriftenreihe ‚Sport und Staat‘.(16) Seine Biografen hielten ihn für arrogant, unkollegial und opportunistisch. (17)
Aufruf von Thilo Scheller 1933
Der Jugendwart der Deutschen Turnerschaft, Thilo Scheller, rief 1933 in einem ganzseitigen Aufruf in der Zeitschrift ‚Turnerjugend‘ die Sportvereine auf, dem Anstoß Baeumlers und der Studentenschaft zu folgen und für die Vernichtung ‚undeutscher Bücher‘ zu sorgen (18) Ein Schandmal in der Sportgeschichte. Baeumler und Scheller lagen im Ungeiste eng beieinander, sie waren rigorose Vertreter von Wehrhaftigkeit, Lagererziehung und NS-Männerbünden. Edmund Neuendorff, der Turnschriftsteller und Turnschuldirektor, Mitbegründer des Wandervogels, des Jugendherbergswerks und der Turnerjugend, hat die Deutsche Turnerschaft als dessen letzter gewählter Vorsitzender und dann als ernannter ‚Führer‘ begeistert in das Dritte Reich geführt. Er träumte von einer eigenen Säule der Turner neben der SA im neuen Staat und übertrug Thilo Scheller 1933 die Führung der von ihm gegründeten ‚Deutschen Turnerwehr‘. Neuendorff wurde noch vor dem Stuttgarter Turnfest durch von Tschammer und Osten als Führer der DT abgelöst. Nach Entzug seines Lehrauftrages in Bonn wurde er 1936 Abteilungsleiter des Sportamtes ‚Kraft durch Freude‘ und ging 1941 als Direktor des Hochschulinstitutes im ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ nach Prag. Nach dem Krieg wurde er Pfarrer. Sein Bild schwankt wie ein Baum im Winde. (19)
Edmund Neuendorff mit Thilo und Lisa Scheller 1952
Der 1943 verstorbene Reichssportführer von Tschammer und Osten musste oder wollte den Vereinssport gegen die Konkurrenz der Parteigliederungen verteidigen. (20) Es ist fraglich, ob die liberal gesinnten Sportvereine mit ihren ‚von Individualisten privat und egoistisch betriebenen Leibesübungen’ im NS-Staat – so der Ideologe Baeumler – überhaupt noch eine Überlebenschance neben den Sportgruppen von Hitlerjugend, SA, SS, KdF, Wehrmacht und Polizei hatten. Hans von Tschammer und Osten war übrigens Ehrenbürger von Freyburg, seine Urne wurde in der Langemarckhalle des Berliner Olympiastadions beigesetzt.
An Hand dieser Biografien können sich junge Leute mit dem NS-Vereinssport, Jahn und der Turnerschaft näher beschäftigen. Auch der Opfer dieser Tätergeneration kann gedacht werden. Ich schlage dafür eine Zusammenarbeit mit den bundesweiten Arbeitskreisen ‚Stolpersteine‘ der Schulen und Jugendverbände vor. Partner können auch die in mehreren Bundesländern bestehenden Vereine ‚Aktives Museum‘ sein, die sich mit dem Widerstand und den Opfern der NS-Zeit beschäftigen.
TV Jahn und Friesen beim Marsch ins Dritte Reich 1933.
Die örtlichen Turnvereine
Als Neuköllner Vereinsmitglied liegt es nahe, auch auf die NS-Geschichte des Turn- und Sportvereins Neukölln 1865 einzugehen. Dessen Stammvereine, der TV Jahn Neukölln 1865 und der TV Friesen Neukölln 1887, marschierten 1933 ebenfalls begeistert ins Dritte Reich. Für die ‚Gleichschaltung‘ sorgten die Vereinsführer Adolf Naumann und Robert Gadewoltz. Die Märkische Turn- und Sportzeitung berichtete darüber auf ihren Titelseiten. Gleichschaltung bedeutete die Einführung des Führerprinzips, Dietwesens und des Wehrturnens sowie im vorauseilenden Gehorsam den Ausschluss jüdischer Mitglieder.
Der 1865 gegründete MTV ‚Vater Jahn‘ Rixdorf – so der Stein am Jahndenkmal – ist der älteste Sportverein Neuköllns. Er baute 1887 eine eigene Turnhalle, gründete die erste Feuerwehr und weihte 1918 den heutigen Jahn-Sportplatz ein. Planungen für eine Turn- und Festhalle mit eigenem Sportmuseum auf dem Tempelhofer Feld fielen dem 1. Weltkrieg zum Opfer. Im TV Friesen, der sich in seiner Festschrift von 1937 stolz als ‚brauner Verein‘ bezeichnete (21), tat sich Robert Gadewoltz als Vereinsführer besonders hervor. Er war bis 1931 Gauführer der Hitlerjugend in Berlin und Brandenburg, danach ‚Reichsredner der NSDAP‘. Von 1933 bis 1945 wurde er zum hauptamtlichen Stadtrat in Neukölln ernannt. Als enger Mitarbeiter des Bezirksbürgermeisters lagen 1936 die Errichtung des Jahn-Ehrenhains und 1937 die Restaurierung des Friesen-Hügels in der Hasenheide in seiner Verantwortung. Der TV Friesen gewährte vor Hitlers Machtergreifung der kurzzeitig verbotenen Hitlerjugend Unterschlupf und vereinnahmte 1933 drei traditionelle Neuköllner Schwimmvereine, deren Vorstände als unzuverlässig oder dem Arbeitersport nahestehend galten. Die drei annektierten Schwimmvereine Schwimm-Club Neukölln, Schwimm-Union Neukölln und Freie Schwimmer Neukölln gründeten sich nach 1945 neu und schlossen sich 1997 zur Schwimm-Gemeinschaft Neukölln zusammen, erfolgreich vertreten von den Weltklasseschwimmerinnen Franziska van Almsick und Britta Steffens. Aus den Vereinen TV Jahn, TV Friesen und VfL Neukölln wurde 1949 der TuS Neukölln. Robert Gadewoltz ging nach dem Krieg als erfolgreicher Unternehmer nach Schleswig-Holstein. Der frühere Reichsjugendführer Axmann berichtet in seinen Memoiren über einen Besuch bei dessen Witwe in den siebziger Jahren. Die von NS-Kreisleiter Wollenberg ernannten Dietwarte Arno Merker (Jahn) und Günter Frühauf (Friesen/SS-Mitglied) sowie deren Vorgesetzter Erich Fiedler (BT) redeten nach dem Krieg ihre Tätigkeiten als ’nur Fest- und Kulturwarte‘ schön.
Sport und Krieg – ein weiteres Thema
Wenn ich mit der im Olympiagelände beheimateten Bildungsstätte der Sportjugend Berlin zusammenarbeite, bietet sich an diesem Ort das Thema ‚Sport und Krieg‘ besonders an. Hier stehen dann Personen wie Prof. Dr. Carl Diem und Guido von Mengden und auch der Architekt Prof. Werner March im Mittelpunkt des Interesses. Die Person Carl Diems ist trotz einer mehrbändigen Biografie noch immer umstritten, Guido von Mengden, die graue Eminenz des NS-Sports und Generalreferent des Reichsbundes, konnte wie Diem seinen Dienst für den Sport der Bundesrepublik bis zu den höchsten Ehren weiterführen. Der Architekt Werner March ist als Schöpfer des ‚Reichssportfeldes‘ und der Langemarckhalle weltweit bekannt, als Planer des ‚Stadions der Zweihunderttausend‘ in der Berliner Südstadt (Welthauptstadt Germania) aber bisher selten zitiert worden.
Stadion Südstadt (Germania) von Werner March 1943/44.
Carl Diem und Guido von Mengden bei der DOG 1954.
Der Nachkriegs-Jahn
Doch nun zurück zu Jahn und der Frage, was aus ihm nach 1945 wurde und wer sich seiner annahm.
Jahn hat die Ausstellung überlebt. Das von den Nazis konstruierte Bild des braunen Jahns trat nach Kriegsende neben einen neuen, ganz anderen schwarzen, roten, blau-gelben oder grünen Jahn – wieder orientiert am geltenden Zeitgeist oder der politischen Tageslosung.
Fünf Jahre später beim Turnfest in Frankfurt 1948 war der ‚Alte im Barte‘ wieder da. Dann ganz groß 1952 zum 100. Todestag. Ost und West feierten ihn nicht gemeinsam, aber entsprechend demokratischer oder sozialistisch-kommunistischer Vorgaben. In Zeitungsbeiträgen meldeten sich alte Jahn-Experten wieder zu Wort, vermieden aber die Begriffe Wehrsport und Wehrerziehung. Neuendorffs Aufruf aus den zwanziger Jahren ‚Zurück zu Jahn, es gibt kein besseres Vorwärts‘ fand sich 1952 in den Schlagzeilen westdeutscher Zeitungen. Josef Göhler überschrieb seinen Beitrag mit ‚Patriot – Volkserzieher – Wissenschaftler‘, Franz Wilhelm Beck sah ebenfalls den ‚Erzieher des Volkes‘ und Carl Diem fragte nach ‚Jahns Vermächtnis an uns‘ Selbst Guido von Mengden sah unter dem Pseudonym Till van Ryn in Jahn ‚nicht mehr den Nationalisten, sondern einen Künder des Naturrechtes und Führer zur harmonischen Menschenbildung‘. Auch die Historiker in der DDR waren nicht untätig, nachdem Jahn von Walter Ulbricht als Patriot und Freund Russlands neben Scharnhorst und Gneisenau gestellt wurde. So lauteten die Schlagzeilen zu seinem 100. Todestag ‚Friedrich Ludwig Jahn – ein großer Patriot‘ oder ‚Das Vaterland ist der Begriff alles menschlichen Strebens‘. Arthur Deuble, der Leiter der Zentralschule in Lanz bei Lenzen, rief auf zu „Seid einig mit euch, einig mit uns!“.
Schlagzeilen West und Ost zum Jahn-Jubiläum 1952
Franz Wilhelm Beck, Leiter des Sport- und Jugendamtes Wiesbaden, und Prof. Robert Schulz, Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig, beschrieben in ihren Publikationen den West- und den Ost-Jahn (22). Sportstätten wurden wieder nach dem Turnvater benannt, sein Bild fehlte bei keinem innerdeutschen Sportfest oder DDR-Aufmarsch, selbst die LPD – die FDP der DDR – warb mit ihm als liberalen Demokraten. Er war auf Briefmarken der Bundesrepublik und DDR zu finden, beim Hamburger Turnfest wurde eine „Jahn-Kantate“ aufgeführt. 1958 durfte ich in München seinem Kopf hinterherlaufen. Das Festspiel von München schrieb übrigens Thilo Scheller mit viel Pathos. Sein Schlusssatz ‚Nur wo wir opfern wird Deutschland sein‘ ist mir noch in Erinnerung. Der Deutsche Turner Bund stiftete die Jahn-Plakette als hohe Auszeichnung für Ehrenamtliche. Die Turnerjugend verlieh das Jahn-Abzeichen und sammelte mit Jahn-Pfennigen in Gold, Silber und Bronze für eine nie gebaute Jugendbildungsstätte. In der DDR war die Jahn-Medaille des DTSB die höchste Sportauszeichnung.
Der Turnvater ist bei allen Turnfesten in Ost und West mit dabei.
Nachdenken über den wiedervereinten Turnvater
Seitdem gab es noch viele Jahn-Ausstellungen, Aufmärsche in der Hasenheide, Ost- und West-Jahn-Kommissionen von Historikern sowie Symposien. Bis heute sind sich Jung und Alt, rechts und links, östlich und westlich, deutsch, österreichisch, europäisch und außereuropäisch über diesen Jahn nicht einig. Ein unendliches für die Museumspädagogik spannendes Thema auf der nach oben offenen Jahn-Skala. Wir sollten dafür dankbar sein.
Ich schließe mit einem Foto vom Jahn-Symposium 1978 in der Berliner Kongresshalle. Junge Historiker und Sportwissenschaftler hatten es gewagt, sich mit dem Turnvater international auseinanderzusetzen und sich mit dem konservativen Jahn-Bund und den sudetendeutschen Turnern anzulegen. Bei der Herausgabe des Jahn-Buches von Horst Ueberhorst (23) über Inter Nationes habe ich noch mitgewirkt, danach mich anderen Schwerpunkten zugewandt. Ich freue mich über die hier versammelten Wissenschaftler, Forscher und Museologen, die sich 25 Jahre nach dem Mauerfall mit einem janusköpfigen, aber wiedervereinten Turnvater beschäftigen können. Jeder von ihnen kann sein eigenes Mosaiksteinchen zum Jahn Bild beitragen.
200 Jahre Turnplatz Hasenheide am Jahn-Denkmal 2011
Anmerkungen und Quellenhinweise
(1) Katalog zur Friedrich Ludwig Jahn-Ausstellung 1943, 12 Seiten, Mier & Glasemann, Berlin-Neukölln, 1943.
(2) Anthony Read/David Fisher: Der Fall von Berlin. Aufbau-Verlag Berlin, 1995.
(3) Dietwarte wurden seit 1933 nach dem Vorbild der völkischen Turnvereine ernannt. Sie wurden von den NSDAP- Schulungs- und Rasseämtern ausgebildet und leiteten u.a. die „Völkische Aussprache“ in den Vereinen. Richtlinien in: Kurt Münch: Deutschkunde. Limpert-Verlag, Berlin, 1934. Kurt Münch: Vereinsdietwart. Limpert-Verlag, Frankfurt/M., 1936.
(4) Bruno Paul Schaumburg: Jahn – Lebensroman eines aufrechten Mannes. Koehler & Amelang, Leipzig,1936. Franz Bauer: Friedrich Ludwig Jahn, das Leben eines Nationalsozialisten aus früher Zeit. Franz Schneider Verlag, Leipzig, 1934. Friedrich Bubendey: Jahn – Erkenntnis und Erbe. Theodor Fritsch Verlag, Berlin, 1943.
(5) Ullstein Bild / Scherl, Nr. 1005906821.
(6) Neuköllner Tageblatt vom 13.8,1943. NS Sport vom 29.8.1943.
(7) Ebd., Read/Fisher
(8) Henrik Schulze: 19 Tage Krieg. Die RAD-Division Friedrich Ludwig Jahn. Projekt + Verlag Dr. Erwin Meißler, Hoppegarten b. Berlin, 2011.
(9) Zum Beispiel: Wanderausstellung ‚Pop up Cranach‘, Kooperation der Gemäldegalerie Berlin mit dem Kinder-Museum Alice vom September 2014 bis April 2015.
(10) Götz Aly: Die Belasteten, Seite 150. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2013.
(11) Hajo Bernett: Nationalsozialistische Leibeserziehung, 2. Auflage, Hofmann-Verlag, Schorndorf, 2008.
(12) Alfred Baeumler (1887-1968), Professor für Philosophie und politische Pädagogik an der Universität Berlin.
(13) Thilo Scheller (1897-1978), Führer der Deutschen Turnerjugend, RAD-Führer, nach dem Krieg Heimatdichter.
(14) Edmund Neuendorff (1875-1961), Turnschriftsteller, Turnschuldirektor, Begründer Jugendherbergswerk und Turnerjugend, Führer der Deutschen Turnerschaft bis 1933, KdF-Abteilungsleiter, nach dem Krieg Pfarrer.
(15) Hans von Tschammer und Osten (1887-1943), SA-Obergruppenführer, Reichssportführer und Staatssekretär.
(16) Baeumler, Alfred: Kultur und Volk, die Begründung der deutschen Leibesübungen und Jahns Stellung in der deutschen Geistesgeschichte, in Politik und Erziehung, Junker und Dünnhaupt, Berlin, 1937. Ebd. (Hrsg.): Sport und Staat, 2 Bände, Reichssportverlag, Berlin, 1936/37.
(17) Hermann Giesecke: Hitlers Pädagogen, 2. Auflage, Juventa-Verlag, Weinheim-München, 1999.
(18) Lorenz Peiffer: „Wider den undeutschen Geist“, Aufruf zur Bücherverbrennung vom 10.5.1933“ in Illustrierte Geschichte der Deutschen Turnerjugend, Klartext, Essen, 1992.
(19) Horst Ueberhorst: Edmund Neuendorff, Turnführer ins Dritte Reich, Bartels & Wernitz, Berlin, 1970. Peter Kratz: Der ungebrochene Weg des Edmund Neuendorff, vom nationalsozialistischen Turnführer zum evangelischen Pfarrer. In ‚Deutsches Pfarrerblatt‘, Heft 1/2013.
(20) Dieter Steinhöfer: Hans von Tschammer und Osten, Reichssportführer im Dritten Reich, Bartels & Wernitz, Berlin, 1973.
(21) Hans Leuschner: 50 Jahre TV Friesen 1887 zu Neukölln. Sonderausgabe von ‚Turnen und Volkstum‘, Berlin, 1937.
(22) Franz Wilhelm Beck: Friedrich Ludwig Jahn, Limpert-Verlag, Frankfurt/M., 1952. Robert Schulz: Friedrich Ludwig Jahn, Sportverlag Berlin, 1953.
(23) Horst Ueberhorst: Friedrich Ludwig Jahn, 1778/1978, Heinz Moos Verlag, München, 1978.
Fotos: Archiv LSB Berlin, Privatarchiv Nippe
Erstveröffentlichung im Tagungsband des 7. DAGS-Symposiums Freyburg 2014
Ergänzende Materialien
Die ‚Lebenswelten‘ von Kindern, Jugendlichen und Frauen im Jahr 1943
Abseits der Schlagzeilen der Zeitungen über abgeschossene Russenpanzer, siegreiche Schlachten und Niederlagen im Osten sowie Kampfappelle und Ordensverleihungen finden sich auf den kriegsbedingt spärlichen Zeitungsseiten auch Meldungen und Berichte über Alltägliches oder auch Besonderes. Todesanzeigen wurden ‚wegen der Papierknappheit‘ grundsätzlich nicht mehr abgedruckt, Theateranzeigen, Kino- und Rundfunkprogramme sowie Ergebnislisten von Sportveranstaltungen fehlten neben den täglichen ‚Verdunkelungszeiten‘ aber nicht. Hier ein Auszug aus ‚kleinen Geschichten‘, die Kinder, Jugendliche und Frauen und deren soziales Umfeld im 2. Weltkrieg direkt betrafen.
- Hitler und Goebbels hatten der Heimatfront Brot und Spiele verordnet. Bereits einen Tag nach jedem Bombenangriff mussten Theater und Kinos wieder öffnen. Post und Bahn, Strom-, Gas- und Wasserleitungen funktionierten oder wurden schnell repariert, das Leben ging weiter. Glaser, Tischler, Dachdecker und Zimmerer wurden aufgefordert, sich bei den Dienststellen des Reichsministeriums Speer in Berlin zu melden. (Neuköllner Tageblatt vom 3.3.43).
- Im Berliner Olympiastadion spielten am 27. Juni um die Deutsche Fußballmeisterschaft Dresden gegen Saarbrücken mit 3:0 vor 90.000 Zuschauern, am 21. August vor 70.000 Hertha gegen Schalke 1:3.
- Auf dem Reichssportfeld gab es am 2. August das jährliche ‚Große Spiel- und Sportfest für alle‘, dazu Boxen in der Freilichtbühne und Deutsche Meisterschaften der Leichtathleten im Olympia-Stadion, Wettkämpfe zwischen Luftwaffe, Heer und Marine im Mommsenstadion und Poststadion. Im Kuppelsaal des Reichssportfeldes, der auch als Fernsehstudio diente, traten Künstler und Tänzer auf und wurden Turn- und Fechtturniere ausgetragen. Die Hitlerjugend veranstaltete in Berlin ihren ‚Ersten Reichsschwimmtag‘ und rief zur verstärkten Nicht-Schwimmerausbildung auf.
- Zehntausende waren zu Lehrgängen eingezogen, vom Kleinkinderturnen über die Ausbildung der HJ- und BDM-Sportwarte bis zu den Abnehmern des Versehrtensportabzeichens. 1943 wurden im Gau Brandenburg 200.000 Teilnehmer an Lehrgängen in 15 Sportarten und zu überfachlichen Themen gezählt (NS-Sport v. 1.8.43). Alles lief als gäbe es keinen Krieg, keine Transportprobleme und die Angst, nicht vor der Verdunkelung der Stadt noch ins Lehrgangsquartier oder nach Hause zu kommen.
- Am 15. März 1943 versammelten sich die Berliner Friesen-Vereine auf dem Invalidenfriedhof und gedachten ihres dort vor 100 Jahren begrabenen in den Freiheitskriegen 1814 gefallenen Namensgebers. Das Neuköllner Tageblatt berichtet, dass Friedrich Friesen eigentlich auf Wunsch Jahns in der Hasenheide ruhen sollte. Dort erinnert der ‚Friesenhügel‘ an den Freiheitskämpfer.
- In der Zeitung des Reichsbundes „NS-Sport“ wurde davor gewarnt, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene mit denen man in den Vereinen Sport trieb als ‚Sportkameraden‘ anzusehen. O-Ton: „Wir sind höflich und freundlich, müssen aber die deutsche Unart zu menschlichen Gefühlen, Mitleid und Hilfsbereitschaft, und damit Humanitätsgedusel, zu Lasten vernünftiger politischer Überlegungen ablegen. Wir schätzen die Arbeitsleistung der Ausländer, die uns die Mittel für den Sieg Europas schaffen. Die Polen und Fremdarbeiter, die in Deutschland arbeiten, sind nach wie vor unsere Feinde. Wer Ausländer in Familien einlädt begeht Volksverrat“ (aus NS-Sport, 1943).
- Die Niederlage von Stalingrad und die Goebbels-Rede im Sportpalast vom 18. Februar zum “totalen Krieg“ waren Anfang des Jahres Hauptthema in den Zeitungen. Wahrscheinlich hatten die Offiziere versagt, so dass Hitler sich an das von Jahn geforderte ‚Volksheer‘ erinnerte und anordnete – so stand es im NS-Sport – nun auch einfache Soldaten aus dem Volke ohne Abitur und Adelstitel zum Offizier und Führer zu befördern. Er folgte damit dem Vorbild Napoleon, dem Erzfeind des Befreiungskämpfers Jahn.
- Dr. Goebbels ruft die Bevölkerung auf, Vorschläge für den „totalen Krieg“ an eine dafür geschaffene Dienststelle des Propagandaministeriums zu senden. (Neuköllner Tageblatt vom 13.4.43).
- Das Neuköllner Tageblatt berichtet am 10.2.43 über eine Meldung der „New York Herald Tribune“ über bisher im Krieg getötete 4 Millionen Sowjetbürger.
- Zum Start des ‚Paracelsus-Films‘ in den Berliner Kinos werden die schauspielerischen Leistungen von Werner Kraus und Matthias Wiemann sowie die Soloeinlagen des Tänzers Harald Kreuzburg gewürdigt. (Neuköllner Tageblatt v. 3.5.43).
- Das Opernhaus in der Bismarckstraße lag 1943 in Trümmern. Die Deutschlandhalle wurde 45 Minuten vor ihrer Zerstörung geräumt, 13.000 Besucher erlebten am 16. Januar gerade ‚Menschen, Tiere, Sensationen‘. In der Nacht vom 2. zum 3. September – während der Jahn-Ausstellung – ging das von Carl Diem geleitete Internationale Olympische Institut in Flammen auf, das Olympia-Archiv und der Nachlass von Coubertin verbrannten.
- Am 1. August 1943 warfen britische Flugzeuge keine Bomben, sondern Flugblätter ab, in denen die Bevölkerung vor nun folgenden Flächenangriffen gewarnt wurde. Ähnliches hatten die Briten im Juli vor dem ‚Feuersturm‘ in Hamburg gemacht. Goebbels reagierte sofort und ordnete die Evakuierung von bis zu 700.000 Frauen mit kleinen Kindern an. Gleichzeitig forderte er alle Erwachsenen, die nicht in der Rüstungsindustrie tätig waren, zum Verlassen der Stadt auf.
- Das Neuköllner Tageblatt stellt am 14.8.43 die Sieger der Mehrkämpfe des 37. Jahn-Wettturnens in Freyburg/Unstrut vor.
- Die angekündigten Flächenangriffe begannen Mitte November 1943, sie sind als „Luftschlacht um Berlin“ in die Geschichte eingegangen.
- Trotz der Bombenangriffe meldete die „Fremdenverkehrsstatistik“ der Reichshauptstadt einen Anstieg der Berlin-Besucher von 985 300 auf 1.025 900 Fremde. Gleichzeitig wurde gewarnt, ohne festes Urlaubsquartier nicht kriegswichtige Bahnfahrten anzutreten, da alle Erholungsorte überfüllt sind. Im Sommerprogramm der Organisation ‚Kraft durch Freude‘ stehen Dampferfahrten und Sportkurse an der Spitze des Bevölkerungsinteresses. Die Berliner Bühnen veröffentlichen ihr Theater- und Konzertprogramm für die Spielzeit 1943/44. (Neuköllner Tageblatt vom August 1943).
- Die ersten Turnhallen waren beschlagnahmt worden, um Bombengeschädigte unterzubringen. Sie erhielten Möbel aus den früheren Wohnungen der Juden, die abgeholt und ermordet wurden.
- Wenn die Finanzbehörden öffentlich „Judenmobiliar“ versteigerten, kamen Scharen von Interessenten.
- 1943 empfahl die Neuköllner Kinderärztin Marie Therese Lassen einem Elternpaar, ihren behinderten Sohn nicht in eine Pflegeanstalt zu verlegen. Er blieb dadurch am Leben, entging der Euthanasie und dem Kindermord. Frau Dr. Lassen war tapfer, half und überredete die Eltern, ihr Kind nicht loszulassen und dem Staat in Obhut zu geben. Ich habe sie 1950 noch als Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes kennengelernt, als ich meinen ersten Sportgesundheitspass beim Eintritt in meinen Sportverein erhielt.
- Die Euthanasie bis hin zur Tötung unwerten Lebens war übrigens kein Staatsgeheimnis. Auch in der Zeitung NS-Sport fand sich 1943 ein Hinweis, dass in Schweden nunmehr Vagabunden und Kriminelle sterilisiert wurden und diese Rechtsprechung die des Deutschen Reiches übertraf.
- Aus Ungarn wurde berichtet, dass Juden nach neuen Gesetzen nicht mehr unter „Religion“, sondern „Rasse“ fallen und damit die Judenfrage auf rassischer Grundlage geklärt wird. (NS-Sport v. 1.8.43).
- Zur Normalität gehörte auch Banales: Gartenbesitzer mussten Feldfrüchte anbauen und so die Ernährungslage verbessern. Das Einsammeln übernahm die Hitlerjugend.
- HJ und BDM machten Hilfsdienste beim Feuerlöschen und Enttrümmern, Lehrer und Schulklassen gingen in die erweiterte Kinderlandverschickung. Männliche Jugendliche kamen zum Reichsarbeitsdienst, weibliche absolvierten ihr Pflichtjahr in Kinderheimen, Lazaretten und auf dem Land.
- Die Hitlerjugend beklagte sich in ihrem Jahresbericht 1943 über Zeitungsmeldungen, nach denen Sportvereine den Pflicht-Sportdienst der Kinder und Jugendlichen übernehmen sollten, der seit 1936 alleinige Aufgabe der Staatsjugend war.
- 1943 wurde für 1944 zu den „Hallenkampfspielen der Hitlerjugend“ in Prag eingeladen, in deren Mittelpunkt die Deutschen Jugendmeisterschaften im Gerätturnen, Fechten, Boxen, Gewichtheben und Judo standen. Allerdings hatten die HJ und der BDM zu wenig eigenes Personal und mussten die Fachwarte und Kampfrichter der Fachämter des NS Reichsbundes für Leibesübungen verpflichten.
- Dem Vereinssport schwante böses, wenn er an das Kriegsende dachte: An Stelle der Vereine trat immer mehr der Sport der Partei und deren Gliederungen. Wer weiß heute noch etwas über den Konkurrenzkampf der NS-Organisationen untereinander: Vereine des NS Reichsbundes für Leibesübungen gegen Betriebssportvereine von ‚Kraft durch Freude‘ und Sportgruppen von SA, SS, HJ und BDM. Selbst beim Klein-Kindersport und Mutter-und-Kind-Turnen gab es ein ewiges Zuständigkeitsgerangel zwischen NS Volkswohlfahrt, NS Frauenschaft, KdF-Betriebssport und Sportvereinen. Nach dem Tod des Reichssportführers wurde dieses Chaos noch größer und unlösbarer.
Weitere Quellen:
Benz, Graml, Weiß (Hsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Verlag Klett-Cotta, München, 2007.
Hachtmann, Schaarschmidt, Süß (Hsg.): Berlin im Nationalsozialismus. Wallstein-Verlag, Göttingen, 2011.
Kluge, Volker: Olympia Stadion Berlin, Zeittafel. Verlag Das Neue Berlin, 2009.
Reichsjugendführung: Sportnachrichtendienst der Hitlerjugend, Jahresbericht 1943/44, Berlin, 1944.