Erinnerungen an eine bürgerliche Sozialreformerin
Die 1951 in Berlin (West) verstorbene Vorsitzende des Vereins „Arbeiterinnenwohl“, Mathilde Kirschner, gehört zu den erfolgreichen bürgerlichen Sozialreformerinnen des vorigen Jahrhunderts. Ihr Wirken spiegelt die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik zur NS-Zeit bis zum Neubeginn der Bundesrepublik nach 1945. Herausragend waren ihre Tätigkeiten als Leiterin eines der ersten „Arbeiterinnenheime“ in Berlin-Moabit und als Oberin des ‚Kaiser-Wilhelm-Kinderheims‘ in Ahlbeck auf Usedom.
Mathilde Kirschner wurde am 10. Mai 1875 in Breslau geboren und kam mit den Eltern und vier Geschwistern 1893 nach Berlin. Ihr Vater Martin Kirschner, Mitglied der ‚Freisinnigen Partei‘, war seit 1873 Stadtrat in Breslau und wurde 1893 zum Bürgermeister und dann 1898 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Wilhelm II mochte die Freisinnigen nicht und empfing den Oberbürgermeister erst im Herbst des nächsten Jahres. Der Berliner Volksmund taufte das Berliner Rathaus daraufhin in „Wartburg“ um. Später war der Kaiser mit der Wahl des Stadtparlaments zufrieden, arbeitete doch der neue Oberbürgermeister äußerst erfolgreich und brachte wirtschaftlich und planerisch die Hauptstadt voran. Martin Kirschner starb 1912, er war Ehrenbürger von Berlin. Margarethe Kirschner, die Mutter von Mathilde, war in der Frauenbewegung und Mädchenbildung tätig und engagierte sich in zahlreichen Sozialprojekten.
Mathilde-Kirschner-Heim in Alt Moabit 38/39
Wohnung und Bildung für junge Fabrikarbeiterinnen
Nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin in Breslau und München sowie zur Krankenschwester in London arbeitete Mathilde Kirschner in Berliner Frauen- und Mädchenprojekten. In der aufstrebenden Wirtschaftsmetropole gab es 26.000 obdachlose Frauen, die als Fabrikarbeiterinnen in die Stadt gekommen waren und nur über ‚Schlafstellen‘ verfügten. Sie setzte sich für die Errichtung von preiswerten Wohnplätzen für diese Arbeiterinnen ein und gründete 1899 in Tiergarten eine erste Heimstätte für Arbeiterinnen und 1903 für Mädchen. Mit dem von ihr 1904 gegründeten Verein „Arbeiterinnenwohl e.V.“ erwarb sie 1908 in der Straße Alt Moabit 38 ein großes Grundstück und ließ von dem Architekten Heinrich Schweitzer ein Wohnheim für 100 Fabrikarbeiterinnen errichten. 1912 kam das Nachbarhaus dazu. Beide Projekte finanzierte sie über Zuwendungen und Spenden, um die sie im Bekanntenkreis ihres Vaters und den in Moabit und Wedding ansässigen Firmen des Maschinenbaus und der Elektroindustrie warb. Die Unternehmergattin Elly von Siemens war Mitglied des Vorstands ihres Vereins.
In den viel gelesenen ‚Westermanns Monatsheften‘ schrieb sie über das 1909 in Moabit eröffnete Heim: „Das neue Heim soll den Mädchen, die tagsüber auf Arbeit gehen, eine Heimstätte bieten. Jene, die sonst heimatlos in der fremden Großstadt umherirren, die oft nur in Schlafstellen ein oft menschenunwürdiges Unterkommen finden, sollen dort willkommen sein. Schlafstelle das Wort allein drückt das Elend so vieler aus. Schlafstelle, eine Stelle, wo das Mädchen schlafen darf, weiter nichts! Bei Arbeitslosigkeit, in Krankheitsfällen ist das Mädchen ohne Obdach, und stets ist es der Gefahr ausgesetzt, seine Schlafstelle ebenso wie seine Arbeit plötzlich zu verlieren. Ohne Heim, ohne einen festen Boden steht die Arbeiterin in der Welt da, und doch bedarf der Mensch des festen Einwurzeln auf Erden, soll er aufrecht stehen, sich aufrechterhalten und sehen, dass er nicht falle. Das Arbeiterinnenheim will nun seinen Bewohnerinnen einen sicheren Boden bieten, auf dem sie, sich festwurzelnd, den Stürmen des Lebens widerstehen, Licht und Wärme aufnehmen können und zu Persönlichkeiten heranreifen. Der Zauber des Hauses soll darin bestehen, dass er den Eintretenden den Staub von Körper und Seele abschüttle, dass gesenkte Köpfe sich heben, traurige Blicke sich erhellen, schwankende Schritte fest werden.“
Speisesaal des Arbeiterinnenheims Alt Moabit
Das fünfgeschossige Gebäude und dessen Seitenflügel waren auf die Bedürfnisse seiner Bewohnerinnen zugeschnitten. In vier farblich abgestimmten Etagen entstanden überwiegend Einzelzimmer. In jedem Stockwerk gab es – damals eine Seltenheit – WC und Bad sowie eine kleine Küche. Die Arbeiterinnen mieteten für 8,50 bis 10,– Reichsmark im Monat ihr möbliertes Zimmer einschließlich Bettwäsche und Handtüchern. Ein Mittagessen wurde für 30 Pfennig angeboten, ein Bad kostete 10 Pfennig. Gemütliche Gemeinschaftseinrichtungen wie Musik- und Lesezimmer, Bibliothek, zwei große Festsäle für Veranstaltungen waren vorhanden. In einem der Säle stand ein italienischer, mit Majolika verzierter Marmorbrunnen von 1664, der 1988 restauriert wurde. Ein öffentlich zugängliches Café diente der Kommunikation mit den Bewohnerinnen. Ein Kreuzgang mit einen vom Bildhauer Hugo Lederer geschaffenen Brunnen führte in den begrünten Innenhof des Seitentrakts. Die große Küche war mit einer Koch- und Haushaltsschule verbunden, in der diplomierte Wirtschaftslehrerinnen tätig waren. Mit dem Kauf des Nachbarhauses kamen weitere Zimmer, auch für Paare und alleinerziehende Mütter mit Kindern hinzu. In den Untergeschossen beider Häuser waren Badeabteilungen, Waschküchen und Bügelzimmer untergebracht, die von den Heimbewohnerinnen genutzt werden konnten.
Für ihr Heim hatte Mathilde Kirschner Selbstverwaltungsgremien gegründet, in denen die Fabrikarbeiterinnen Verantwortung übernehmen konnten. So gab es Komitees für Veranstaltungen, Verwaltung, Weiterbildung, Gesundheit und Krankenpflege. Der jährlich in den Festsälen ausgerichtete „Rosenball“ war stadtbekannt. Auch die Wohltätigkeitsveranstaltungen zur Weihnachtszeit, in denen arme Kinder beschert wurden, fanden große Aufmerksamkeit.
Kronprinzessin Cecilie besucht 1914 das Arbeiterinnenheim
Das Besondere an dem neuen Wohnheim war, dass die jungen Fabrikarbeiterinnen in den Abendstunden und auch an den Wochenenden an kostenlosen Bildungsangeboten teilnehmen konnten. In London hatte Mathilde Kirschner die britische Settlement-Bewegung kennengelernt, in dem Mädchen und Frauen aus gebildeteren Schichten ehrenamtlich ‚ihren Reichtum an Wissen und Können‘ an Arbeiterinnen aus ärmeren Schichten weitergaben. Wir nennen das heute Stadtteilarbeit in sozialen Brennpunkten durch ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘. Außerdem gab es zur Berufsvorbereitung wie beim Lette-Verein Kurse in Hauswirtschaft, Krankenpflege, Kindererziehung, Kochen, Stenographie, Deutsch und Englisch. In einer benachbarten Schulturnhalle trafen sich die Frauen zum Turnen und zur Gymnastik, ein gepachtetes Grundstück in der Jungfernheide diente als Gartenarbeitsschule. Ein für die Kaiserzeit revolutionäres Konzept, das auch Kaiserin Auguste Viktoria, die sich gegen Widerstände für die Zulassung von Frauen zum Abitur und Hochschulstudium einsetzte, bekannt wurde.
Modell des ‚Kaiser-Wilhelm-Kinderheims‘ in Ahlbeck/Usedom.
Kaiser-Wilhelm-Kinderheim und Sonnendorf Ahlbeck
Kaiser Wilhelm II und Auguste Viktoria hatten seit ihrem Regierungsantritt die Gründung von Kinderheimen auf Helgoland und Amrum unterstützt und dafür in ihrem Umkreis auch Unterstützer und Förderer gesucht und gefunden. So den jüdischen Mäzen James Simon, der 1894 in Kolberg/Pommern das erste Kinderheim ‚für kranke Berliner Schulkinder‘ eröffnet hatte. Im ‚Jahrhundert des Kindes‘ beschloss Wilhelm II, ein eigenes Kinderheim ‚für arme Berliner Kinder‘ unter seinem Namen zu errichten. Er fand einen geeigneten Bauplatz am Ostseestrand, in Ahlbeck auf der Insel Usedom.
Er suchte eine verantwortliche Leiterin und kam auf Mathilde Kirschner, die Tochter des Oberbürgermeisters. Am 15. Oktober 1910 fand sich Wilhelm II in der Familie Kirschner auf Schloss Buch – dem Sommersitz des Oberbürgermeisters – zum Mittagessen ein und lernte Mathilde persönlich kennen. Sie hatte auf den von ihrem Vater in Berlin-Buch gegründeten Kliniken eine ‚Kleinkinderschule‘ – so nannte man die ersten Kindergärten – eingerichtet, die den Kaiser begeistert hatte. So erging die Bitte an die junge Frau, die Leitung ‚seines‘ Kinderheims in Ahlbeck zu übernehmen. Mathilde Kirschner verband ihre Zusage mit dem Wunsch, ein eigenes Grundstück in Ahlbeck für eine Dependance ihres Moabiter Wohnheims zu erhalten. Der Kaiser war einverstanden. Er berief Mathilde Kirschner zur Oberin der von ihm gegründeten ‚Schwesternschaft des Kaiser-Wilhelm-Kinderheims (KWK)‘ und verlieh ihr die Schwesternbrosche in Gold mit seinem Monogramm. Mathilde Kirschner konnte nun parallel zur Leitung des KWK ihre Wohnanlage für Arbeiterinnen, das Sonnendorf kurz vor Swinemünde, verwirklichen. Beide Gründungen erhöhten ihren Bekanntheitsgrad in der Sozialarbeit und Kinderfürsorge des Kaiserreichs. Zum Sonnendorf gehörten 10 Holzhäuser auf Steinfundamenten mit bis zu 100 Betten für Fabrikarbeiterinnen oder familienähnliche Wohngemeinschaften. Die Häuser trugen Namen wie Sonnenheim, Schneewitchen oder Rautendelein. Eine nach dem Moabiter Vorbild geschaffene Koch- und Haushaltsschule „Quelle“ verfügte über 24 Ausbildungsplätze und betrieb ein öffentliches Veranstaltungszentrum.
Eines der im Krieg zerstörten Häuser des Sonnendorfes in Ahlbeck.
Gemeinsam mit dem Kaiser, dessen Leibarzt Dr. von Niedner und Konsul Christoph von der Holzbaufirma Christoph & Unmack in Niesky/Oberlausitz entwickelte Mathilde Kirschner die baulichen, organisatorischen und vor allem pädagogischen Konzepte für das ‚Kaiser-Wilhelm-Kinderheim‘. Der Kaiser hatte Holzbauten nach skandinavischer Bauart ohne Treppen und mit vielen Fenstern für Licht, Luft und Sonne gefordert. Der Ahlbecker Bauplatz lag im Wald parallel zum Dünengürtel der Ostsee. Ein eigener Strandabschnitt für das Kinderheim war angemietet. Am Pfingstsonntag, dem 26. Mai 1912, genehmigte Wilhelm II im Berliner Schloss die Baupläne – die Geburtsstunde des Kinderheims. Ein Modell des geplanten Ensembles wurde zum 25. Regierungsjubiläums des Kaisers 1913 in Berlin ausgestellt.
Schwestern-Broschen des Kaiser-Wilhelm-Kinderheims
Zuwendung, Liebe und Frohsinn statt Schulmeisterei
Das von Mathilde Kirschner verfolgte pädagogische Konzept war modern und gegenüber der preußischen auf Disziplin und Gehorsam ausgerichteten Kindererziehung geradezu revolutionär. Ihre Vorbilder waren Minna Cauer und Dr. Alice Salomon vom Verein Frauenwohl, Henriette Schrader vom Pestalozzi-Froebel-Haus und Anna Schepeler-Lette vom Lette-Verein. Sie war mit ihnen persönlich oder über ihre Mutter gut bekannt und vernetzt. Nach ihren Berliner Erfahrungen in der Frauen- und Mädchenbildungsarbeit stellte sie nun die Bedürfnisse armer Kinder in den pädagogischen Mittelpunkt des kaiserlichen Heims in Ahlbeck.
Aufgenommen wurden von April bis September für jeweils vier Wochen 50 Jungen von 6 bis 12 und 100 Mädchen von 6 bis 14 Jahren. Voraussetzung dafür waren Unterernährung, Armut und schlechte Wohnverhältnisse. Kinder von alleinstehenden Arbeiterinnen oder Witwen wurden bevorzugt. Unterschiede nach Konfession oder Parteizugehörigkeit der Eltern wurden nicht gemacht. Die Auswahl der Kinder erfolgte durch die Schwestern nach ärztlichen Empfehlungen.
Mathilde Kirschner schrieb: „Durch Licht, Luft und Sonne sowie viel Nahrung für Körper und Seele sollen diese Kinder ihren Hunger und ihre Armut vergessen. Ihnen soll viel gegeben, aber nicht viel von ihnen verlangt werden. Vor allem sollen sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was ihnen zu Hause in beengten Wohn- und Sozialverhältnissen als Mangel begegnet war“. Den Schwestern wurde von ihr aufgegeben, ‚durch Liebe, Zuwendung und Frohsinn Sonnenschein in das Leben der Kinder zu bringen‘. Preußische Schulmeisterei hatte sie verboten, im Gegensatz zu bisherigen Regeln durfte während des Essens geredet werden. Der Gesundheitszustand der Kinder wurde ärztlich dokumentiert und in der ‚Deutschen Medizinischen Wochenschrift‘ veröffentlicht. Sämtliche Kosten für das Heim und die Kinder einschließlich deren An- und Abreise trug der Kaiser aus seinen privaten Mitteln.
Pavillon und Haus der Oberin Ahlbeck 1913
Die Berliner Mädchen und Jungen erwartete im KWK ein ungekannter Luxus: Jedes Kind hatte sein eigenes Bett, einen Hocker, einen Platz in den Waschräumen und einen eigenen, verschließbaren Schrank. Die Innenräume der Häuser hatten unterschiedliche Farben, die sich auf der Heimkleidung der Jungen und Mädchen, auf Wäschestücken, Mützen und Sonnenhüten der Kinder bis hin zu den Pantoffeln wiederfanden. Im Spielpavillon gab es für jedes Kind einen kleinen Kasten für Bastelarbeiten, selbstgesammelte Steine, Muscheln und Bernsteinfunde. Individuell für die Kinder gemalte Blumen-, Tier- oder Vogelmotive ersetzten eine Nummerierung. Das farblich bunte Bild der Kinder ergänzten die blau- und hellblau-weißen Kleider der Schwestern und Schwesternschülerinnen sowie die einfarbigen Dienstkleider der Praktikantinnen, des Küchenpersonals und der Helfer. Für die Praktikantinnen hatte sich die Oberin etwas Neues einfallen lassen: Weibliche Jugendliche aus der Mittelschicht konnten sich nach der Schulentlassung auf eigene Kosten für ein 6- oder 12-monatiges ‚freiwilliges Erholungs- und Dienstjahr‘ in Ahlbeck bewerben. Damit sollten Brücken zu den Kindern aus ‚niederen‘ Schichten gebaut werden. Auch die Gemeinde Ahlbeck profitierte von der Oberin des Kaisers, auf Anregung von Mathilde Kirschner entstand die erste Kinderkrippe des Ortes.
Einweihung des Kinderheims am 3. Juni 1913
Das Kinderheim wurde am 3. Juni 1913 durch Kaiser Wilhelm II und Kaiserin Auguste Viktoria eingeweiht. 150 Berliner Kinder waren 14 Tage vorher mit der Eisenbahn angereist. Es war Kaiserwetter: Die braun-grünen Holzbauten mit den roten Dächern und der Innenhof mit seinen Laubengängen, Rosenbeeten und weißen Schmuckbögen leuchteten im Sonnenlicht. Auf dem Haus der Oberin – dem einzigen aus Stein – wehte die Kaiserfahne, ein rechtzeitig angekommenes Storchenpaar nistete auf dem Reetdach des Pavillons. Das Kinderheim und alle Straßen und Häuser Ahlbecks waren festlich geschmückt. Die Presse berichtete ausführlich.
Ankunft des Kaiserpaars am 3.6.1913, rechts Mathilde Kirschner
Postkartenserien zeigten das Kaiserpaar mit den Kindern im Heim, beim Spielen und am Strand. Ein über das Heimleben und die Eröffnung gedrehter Film wurde acht Monate später in den Kammerlichtspielen am Potsdamer Platz in Berlin uraufgeführt, ein Stück Filmgeschichte. An der mit einem Kulturprogramm verbundenen Matinee nahmen 1.200 Gäste teil. Auch Kronprinzessin Cecilie und Vertreter des Hofes waren erschienen. Wenige Tage vorher hatte sich im Festsaal des Moabiter Heims ein großer Teil der Ahlbeck-Kinder von 1913 eingefunden, um Wiedersehen zu feiern. Am 27. Januar 1914 überbrachten sie dem Kaiser persönlich ihre Geburtstagsglückwünsche. Das Bild, das sie mit dem Kaiser und dessen sechs Söhnen auf der Berliner Schlossbrücke zeigt, gehört zu den bekanntesten Fotos der Kaiserzeit. Wilhelm II besuchte mehrmals sein Heim und übernachtete dort im noch heute vorhandenen ‚Kaiserzimmer‘.
Handsignierte Erinnerungskarte des Kaisers für die Gäste seines Kinderheims.
Kriegszeiten 1914 – 1918
Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs am 1. August 1914 wurde der Betrieb des Kinderheims uneingeschränkt weitergeführt. Außerhalb der Belegungszeiten wurden auf Anordnung des Kaisers verwundete Soldaten aufgenommen und von den Schwestern gepflegt. Zusätzlich zu den armen Kindern kamen in den Hungerjahren auch 565 gesundheitlich gefährdete Kinder aus Berliner Schulen nach Ahlbeck. Die Initiative dazu ging erneut von James Simon aus, der den Kaiser überredete, die Kosten dafür zu tragen. Sein Vorbild und die Unterstützung des Kaisers bewogen die Berliner Stadtverwaltung, die Mittel für die Kinderfürsorge trotz klammer Kassen zu erhöhen.
Die von Mathilde Kirschner ausgebildeten KWK-Schwestern wurden während des Weltkrieges in weiteren Kinderheimen und Sozialeinrichtungen eingesetzt. In Berlin-Spandau übernahm sie zusätzlich die Leitung von vier Heimen für Fabrikarbeiterinnen.
Die Abdankung des Kaisers traf sie hart, hatte sie in ihm doch den ‚Herrscher von Gottes Gnaden’ und Obersten Bischof der Evangelischen Kirche in Preußen gesehen. Ihr wurde bewusst, dass viele ihrer Ideen nun wohl nicht mehr verwirklicht werden konnten.
Nachkriegswirren und Weimarer Republik
Nach dem 1. Weltkrieg führte Mathilde Kirschner ihre Tätigkeit in ihrem Heim in Berlin-Moabit sowie dem Kaiser-Wilhelm-Kinderheim und dem Sonnendorf in Ahlbeck fort
Das soziale Elend der Nachkriegszeit, allein in Berlin hatte sich nach einem Bericht von Oberbürgermeister Böß die Zahl der Kinder mit schlechtem Gesundheitszustand gegenüber 1913 verzehnfacht, stellte die Heimleitung in Ahlbeck vor enorme Probleme. Es war schwer, genügend Lebensmittel aus Swinemünde und Stettin für das Heim und die in andere Quartiere ausgelagerten Flüchtlings- und Waisenkinder zu beschaffen. Das Heim war weiterhin im Privatbesitz des Kaisers, auch nach dessen Abdankung. Anstelle des Hofministeriums trug jetzt ein Kuratorium die Verantwortung, dem Freiherr von Sell als Vermögensverwalter von Wilhelm II, die Fürstin von Lynar-Redern, einer der ersten KWK-Schwestern, und Mathilde Kirschner als Oberin angehörten. Erstmals mussten wegen der Wirtschaftslage Gebühren für den Aufenthalt der Kinder genommen werden, die jetzt aus allen sozial schwachen Teilen des Reiches kamen. Mathilde Kirschner blieb im Briefkontakt zu Wilhelm II und Kaiserin Auguste Viktoria und verschwieg nicht ihre Sorgen. Auch Briefe der Kinder aus Ahlbeck, die voller Freude über ihre Urlaubserlebnisse berichteten, legte sie der Post an das Kaiserpaar bei. Eine Postkarte von einem Besuch der Oberin und mehrerer KWK-Schwestern beim Kaiser in Doorn ist übermittelt.
Partner für die Belegung des Ahlbecker Heims war der 1916 von Kaiserin Auguste Viktoria gegründete Verein ‚Landerholung für Stadtkinder‘, dem neben den Städten und Kommunen auch die Kirchen und Wohlfahrtsverbände angehörten. Das Geld für den Unterhalt und den Betrieb des KWK wurde von der Vermögensverwaltung des vormaligen Kaisers in Berlin durch Boten nach Ahlbeck gebracht. Von 1920 bis 1924 war Mathilde Kirschner ehrenamtliche Jugendstadträtin im neu gebildeten Bezirk Berlin-Tiergarten. Ihr Mandat hatte sie über die Deutsche Volkspartei (DVP) erhalten, der Reichsaußenminister Gustav Stresemann als bekanntester Vertreter angehörte. 1928 gründete sie den ‚Verband der Heimleiterinnen‘, der ihre in Ahlbeck und Moabit entwickelten Konzepte weitertragen sollte. Aus einem Zeitungsbericht geht hervor, dass unverändert arme Kinder aus allen Ständen, Parteien und Volksschichten im Heim aufgenommen wurden. Zeitzeugen berichten über einen Aufenthalt der zweiten Frau des Kaisers, Hermine von Preußen, 1930 in Ahlbeck. Auguste Viktoria war 1921 verstorben und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Potsdam beigesetzt worden.
Mädchengruppe mit ‚Mutter Oberin‘ in den dreißiger Jahren.
Das Kaiser-Wilhelm-Kinderheim in der NS-Zeit
Es grenzt an ein Wunder, dass das Kinderheim bis 1945 unter der Leitung der Oberin stand und pädagogisch unangetastet blieb. Mathilde Kirschner war kein Mitglied der Nazipartei, ihre monarchistische und liberale Haltung waren bekannt. Ihre Kollegin Dr. Alice Salomon musste wegen ihrer jüdischen Geburt in die USA emigrieren. Das Andenken an den 1932 verstorbenen James Simon, der den Berliner Museen die Nofretete geschenkt hatte, wurde von den Nazis unterdrückt. In der Öffentlichkeit hielt sich die Oberin mit politischer Kritik zurück, weswegen man ihr später Opportunismus vorwarf. Hitler hatte zum 75. und 80. Geburtstag des früheren Kaisers alle Veranstaltungen verboten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich daran gehalten hat.
Die Kinder unter zehn Jahren trugen weiter die bunten Hemden und Blusen aus der Kaiserzeit, während die älteren Kinder in der Kluft der Hitlerjugend und des BDM auftraten. Ferienfreizeiten und Kinderkuren gab es seit 1933 nur noch für Arier, die Anmeldungen erfolgten über den alten Verein der Kaiserin, der jetzt als ‚Reichszentrale‘ innerhalb der NS Volkswohlfahrt fungierte. Die gesundheitlichen und sozialen Gründe für einen Aufenthalt in Ahlbeck galten weiter.
1933: Ab 10 Jahren wurde die Kleidung der HJ und des BDM getragen.
Bei Kriegsausbruch 1939 gelang es der Oberin, das Fürsorgewerk der Reichspost für die Belegung des Heims zu gewinnen. Sie zog die Fäden als 1941 der Kaiser in Doorn verstarb und in seinem Testament die Übergabe seines Heims an einen ‚dafür geeigneten Träger‘ verfügt hatte. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Schenkung des Heims an die Post vertraglich gesichert. Ab 1. Oktober 1941 nannte es sich ‚Kaiser-Wilhelm-Kinderheim der Deutschen Reichspost‘. Oberin Mathilde Kirschner war weiter ehrenamtliche Leiterin. Wilhelm II hatte sie und ihre langjährigen Mitschwestern in seinem Testament mit einer persönlichen Dotation bedacht.
Im 2. Weltkrieg
Mit der Post als große zivile und kriegswichtige Reichsbehörde hatte die Oberin einen starken Partner gefunden. Fortan waren die sozial schwachen, aus den vom Luftkrieg bedrohten Regionen der Reichspostdirektionen kommenden Kinder der Postbediensteten Gäste im Heim. Nach Ausweitung der Luftangriffe auf das Raketenzentrum Peenemünde und den Militärhafen Swinemünde wurden Post-Jungboten zur Betreuung der Kinder nach Ahlbeck geschickt. Als die Oberin für russische Kriegsgefangene, die Luftschutzeinrichtungen und Splittergräben angelegt hatten, ein Einweihungsfest gab, wurde sie zweimal denunziert. Im Postminister fand sie einen Schutzengel, der alle Angriffe zurückwies und sich vor seine Oberin stellte. Ein interessanter und aussagereicher Vorgang, der im Bundesarchiv liegt.
Mehrere persönliche Erlebnisberichte von Kindern und Jugendlichen sowie jungen Frauen, die ihr Pflichtjahr im Heim absolvierten, illustrieren die Kriegsjahre, den Frohsinn, aber auch die Ängste bei Luftangriffen. Aus ihnen ist die Dankbarkeit für eine trotzdem schöne Zeit in Ahlbeck zu spüren. Einige der früheren KWK-Kinder und Mitarbeiterinnen haben das zur Hundertjahrfeier bekräftigt und sich vor allem an die ‚Mutter Oberin‘ erinnert.
Dramatische Berichte und Fernschreiben aus dem Jahr 1945 liegen über die Rückführung der Kinder an ihre Eltern und Verwandten in Richtung Westen und Berlin beim Nahen der Roten Armee vor. Kurz vor dem Endkampf um Berlin gelang es im März 1945, die letzte Gruppe von 40 Berliner Kindern nach Hause zu bringen. Zwei Wochen vor Kriegsende übergab die Oberin das unzerstörte Heim an die Wehrmacht, es wurde im Mai 1945 von der Roten Armee als Kommandantur übernommen. Vom Sonnendorf waren nach den verheerenden Luftangriffen auf Swinemünde nur noch die Grundmauern vorhanden. Mathilde Kirschner sah die von ihr seit 1913 geleiteten Sozialeinrichtungen in Ahlbeck nicht mehr wieder.
Nachkriegszeit und Tod der Oberin
Trotz einiger Widerstände von Seiten des Bezirksamtes Tiergarten, erst durch den kommunistischen, dann abgesetzten Bürgermeister Friedrich Bachmann, der ihr vorwarf ‚als Erzmonarchistin immer noch die Kaiserbrosche zu tragen’, und dann des sozialdemokratischen Stadtrates Bruno Lösche, der an ihrer demokratischen Haltung zweifelte, führte sie ihr im Krieg unzerstörtes Heim in Alt Moabit 38/39 als Altersheim weiter. Rückendeckung fand sie bei der Inneren Mission und schließlich auch beim Bezirksamt. Ihren Kritikern sagte sie: „Ich habe immer nur nach sozialen Zielen in meiner Arbeit gehandelt. Ich habe mich nie politisch betätigt. Von meinem Vater habe ich die Toleranz ererbt.“ Am 30. April 1951 ist sie in Berlin verstorben, beigesetzt wurde sie auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde im Familiengrab, neben dem Ehrengrab ihres Vaters. Eine Gedenktafel in Alt Moabit erinnert an ihr Wirken. Ihre Tätigkeit in der Frauenbewegung und ihr Einsatz für sozial Schwache, vorrangig für Arbeiterinnen und Kinder, sind unvergessen.
Gedenktafel an den Häusern Alt Moabit 38/39
Das Heim in Moabit wurde vom Verein „Arbeiterinnenwohl“ unter dem Dach der Inneren Mission weiter betrieben. Nachfolger von Mathilde Kirschner wurde Missionsdirektor Dr. Theodor Wenzel, Namensgeber des heutigen Theodor-Wenzel-Werkes der Diakonie. Ihm gelang es, das dem Verein vererbte Privathaus von Mathilde Kirschner in Caputh bei Potsdam der Kirche zu überschreiben. Unerreichbar für den Verein war das zerstörte Sonnendorf in Ahlbeck, Grund und Boden waren volkseigen und gehörten nun der Gemeinde. Das ‚Mathilde-Kirschner-Seniorenwohnheim‘ in Alt Moabit verfügt seit 1982 über 54 ökologisch sanierte und privatisierte Wohneinheiten. In den ehemaligen Repräsentationsräumen sind Anwaltskanzleien und Firmen eingezogen. Die letzten KWK-Schwestern gingen in den sechziger Jahren im Kinderheim Kümmelbacher Hof bei Heidelberg in den Ruhestand.
Jugendferienpark Ahlbeck der Sportjugend Berlin 2013 (Foto: Bavaria)
Das frühere ‚Kaiser-Wilhelm-Kinderheim‘ in Ahlbeck wurde 1949 eines der ersten Pionierlager der DDR, es trug bis 1989 den Namen ‚Zentrales Pionierlager Boleslaw Bierut‘. Es wurde um ein Zeltlager für bis zu 500 Junge Pioniere erweitert. 1990 wurden die Fahnen der Pionierorganisation und der FDJ für immer eingezogen. Als Besitz eines Trägerbetriebs wurde das Anwesen 1991 von der Treuhand an den Landessportbund Berlin und dessen Jugendorganisation verkauft. Zur Hundertjahrfeier des jetzigen ‚Jugendferienparks‘ der Sportjugend Berlin wurden die denkmalgeschützten Gebäude aus der Kaiserzeit restauriert und das Zeltlager modernisiert. Es ist heute Deutschlands schönster Ferienpark und wurde mit den ‚Drei Sternen‘, dem Qualitätssiegel für Kinder- und Jugendreisen ausgezeichnet. Jährlich verleben dort 5.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihre Sommerferien oder kommen zu Schulfahrten und Sportfreizeiten, Internationalen Jugendbegegnungen und Euro-Camps zusammen.
Innenhof mit Pavillon Ahlbeck 2013
Zur Hundertjahrfeier im Jahr 2013 des Jugendferienparks in Ahlbeck wurde an die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Kinderheims und damit ganz besonders auch an das Lebenswerk von Mathilde Kirschner erinnert.
Literaturhinweise
Böß, Gustav: Die Not in Berlin – Tatsachen und Zahlen, Berlin, 1923
Christoph & Unmack: Das Kaiser-Wilhelm-Kinderheim Ahlbeck, Niesky, 1914
Doege, Hans-Peter/Fromm, Eberhard: Ein Leben für soziale Ziele: Mathilde Kirschner.
In: Probleme/Projekte/Prozesse, Luisenstädter Bildungsverein, Berlin, 2009
Erbstößer, Dr. Elizza: Kaiser-Wilhelm-Kinderheim Seebad Ahlbeck, Oberursel, 2012
Kirschner, Mathilde: Das neuerbaute Arbeiterinnenheim in Berlin. In: Westermanns Monatshefte, 107. Band, Braunschweig, 1909
Kirschner, Mathilde: Kaiser-Wilhelm-Kinderheim im Forst bei Seebad Ahlbeck, Berlin, 1917
Kurbjuweit, Dr.: Das Kaiser-Wilhelm-Kinderheim in Ahlbeck. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Bd. III, Heft 8, 1914
Nippe, Manfred: Vom Kinderheim des Kaisers zum Ferienpark der Sportjugend, Sporthistorische Blätter Nr. 18, Berlin, 2013.
Fotos: Archiv des LSB Berlin