Vor 175 Jahren traten die gewählten Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments zu ihren Beratungen in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Im Jahr 1848 schlug damit die Geburtsstunde unserer Demokratie. Der damit verbundene Traum von der Einheit erfüllte sich zwar nicht, da die Achtundvierziger Revolution von den Herrschenden niedergeschlagen wurde. So blieb die Frankfurter Nationalversammlung ein erster Aufbruch zur Freiheit. Die Turnbewegung hatte daran ihren Anteil: Weißgekleidete Turner mit ihren großen Hüten standen Spalier beim Einzug der Volksvertreter, ein Gemälde im Frankfurter Historischen Museum als Ikone der Demokratie und Sportgeschichte (s. Abb.).
Zu den ältesten Abgeordneten des Parlaments zählte der zweifache Ehrendoktor Friedrich-Ludwig Jahn aus Freyburg/Unstrut. In seiner Altdeutschen Kleidung und seinen oft unverständlichen Reden war er ein Lieblingsobjekt der Karikaturisten und des öffentlichen Spotts der Zeitungen. Seine Zeit als junger Revolutionär, liberaler Demokrat und „Turnvater“ lag lange zurück, ein durch Haft und Verbannung verbitterter und zorniger „Alter im Barte“ trat in Frankfurt auf. Dass er 1848/49 Anteil an der ersten deutschen Verfassung hatte, ein staatsunabhängiges Vereinsrecht unterstützte und für die Frauenemanzipation stimmte, wird von seinen Kritikern heute unterschlagen. Er wurde schon zu Lebzeiten mit Steinen beworfen, auch wenn ihm die Nachwelt unter den verschiedensten politischen Systemen Gedenksteine errichtete und Lorbeerkränze flocht.
Der 1852 verstorbene Jahn hat sicher nicht geahnt, dass man ihn 170 Jahre später als „Antisemiten, Nationalisten, Antidemokraten, Militaristen und Antifeministen“ verleumden würde. So geschehen zur Jahreswende 2022/23 in Neukölln, wo die Linken und Grünen sein Denkmal in der Hasenheide schleifen und die benachbarte Jahn-Sporthalle umbenennen wollen. Ein nach wie vor aktueller Vorgang in der Bezirksverordnetenversammlung. Wie versteht sich das mit den übermittelten Berichten, dass Jahn in Frankfurt sonntags beim jüdischen Arzt Dr. Samuel Stieber am Mittagstisch teilnahm, sich mit seinem französischen Freund Dr. Pierre Lortet traf und mit Prof. Dr. Francis Lieber über Freiheit und Demokratie diskutierte? Stieber war wie Jahn Mitkämpfer im Lützower Freikorps von 1813, Lortet der Übersetzer von Jahns Buch „Deutsches Volkstum“, Lieber Mitangeklagter im Jahnprozess 1819/20, nach der Flucht in die Vereinigten Staaten Völkerrechtler und Berater Abraham Lincolns. Das der Pfarrerssohn Jahn dem heutigen Frauenbild nicht entsprach, teilt er mit den Zeitgenossen seines Jahrhunderts. Frau Prof. Dr. Gertrud Pfister hat darüber 1978 beim Berliner Jahnsymposium referiert. Die Wissenschaft hat Vorwürfe gegen Jahn als Fake-News und alte völkische NS-Narrative enttarnt. Selbst unter „Künstlicher Intelligenz“ im weltweiten Internet finden sich keine Beweise. Wer tritt jetzt zum „Bildersturm“ statt angesagter historischer Kontextualisierung an?
Im kollektiven Gedächtnis bleibt Jahn trotz aller Anfeindungen als Freiheitskämpfer und Turnvater in Erinnerung. Der von ihm begründete Vereinssport ist heute immaterielles Kulturerbe der UNESCO, das Freyburger Jahnmuseum „Ort der Demokratiegeschichte“. Das Andenken Jahns im Jubiläumsjahr der Ersten Nationalversammlung und der gescheiterten Revolution verpflichtet uns nicht zur Heldenverehrung, wohl aber zum Nachdenken und damit zu Kritik und Dank.
Erstveröffentlichung
in „Sport in Berlin“, Ausgabe 03 – 2023
Buchtipp: Krüger/Steins (Hsg.), „Flegel, Sonderling und Turnvater, vom Umgang mit Friedrich-Ludwig Jahn“, Arete-Verlag, Bielefeld (2022)