Der Anschluss der völkischen Turnvereine an die Deutsche Turnerschaft 1933.

Vor 130 Jahren gab es den ersten Arierparagraphen im Vereinssport.

( Ersatz für den gehackten Beitrag vom 19. August 2017 )

Eigentlich war das Wort „völkisch“ in den letzten Jahrzehnten aus unserem Sprachgebrauch so gut wie verschwunden. Jetzt begegnet man ihm täglich. In Verbindung mit den Flüchtlingsströmen und der Angst vor ‚Fremden‘ wird es in die Schlagzeilen der Zeitungen und Meldungen gespült. Wieder in Verbindung mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wie schon vor mehr als 150 Jahren. Wir wissen nicht, wie es in Osteuropa, in Österreich und Frankreich, ja auch in Deutschland, weitergeht. Jedenfalls nehmen Rassismus und Fremdenhass inzwischen Einfluss auf die Innenpolitik und das Zusammenleben und Miteinander von Menschen in Europa. Das geht auch nicht am Sport vorbei.

Seit dem Wegbrechen der „Sportgeschichte“ an unseren Universitäten sind es Einzelkämpfer, Historiker, Journalisten und Antisemitismusforscher, denen es gelingt, die Zeitgeschichte des Sports der Öffentlichkeit zu vermitteln. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Sportevents wie Olympischen Spielen oder den Maccabi Games. Es gibt aber auch Laien, einfach nur Sportbegeisterte, die in „Geschichts-Arbeitskreisen“ Licht in das Dunkel ihrer Sportarten und Sportvereine bringen wollen. Ehrenamtlich und aus Passion. Sie forschen in alten Mitgliederlisten, in Vereinsregistern der Amtsgerichte und in den nur selten noch vorhandenen Vereinszeitungen, was zum Beispiel 1933 mit ihren jüdischen Vereinskameraden passierte, wer Opfer und – oft im vorauseilenden Gehorsam – Täter war. Sie brechen das Schweigen und Verschweigen der Vorkriegsgeneration.

 

 

Wer weiß heute noch, dass es bereits vor der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten Sportvereine gab, die keine Juden unter ihren Mitgliedern duldeten? Nicht nur, dass sie deren Aufnahmeanträge einfach ‚demokratisch‘ ablehnten, sondern einen Beitritt bereits von vornherein in ihren Satzungen ausschlossen? So geschehen zum Beispiel in den völkischen Turnvereinen, die außerhalb der Deutschen Turnerschaft standen und Mitglieder des österreichischen „Deutschen Turnerbundes“ waren.

Der Deutsche Turnerbund (DTB) hatte sich 1889 in Wien gegründet, nachdem die Deutsche Turnerschaft 1888 den Niederösterreichischen Turngau ausgeschlossen hatte. Grund dafür war die Einführung eines ‚Arierparagraphen‘, der Juden und Fremdvölkische aus den Turnvereinen verbannte und in eigene Verbände zwang. Das konnte und wollte die Deutsche Turnerschaft nicht dulden.

Spendenmarke des 6. Bundesturnfestes in Eger 1913 und Siegelmarke des Deutschen Turnerbundes mit den „verbogenen 4-F“. Fotos: Sammlung Nippe.

 

Franz Xaver Kießling – der Agitator aus Wien

Die völkischen Auseinandersetzungen hatten 1887 in Wien begonnen. Agitator war der Oberturnwart des „Ersten Wiener Turnvereins“, Franz Xaver Kießling (1859-1940). Der Verein hatte sich 1860 gegründet und anlässlich des Deutschen Turnfestes in Berlin 1861 im Wasser der Ostsee bei Stettin seine neue schwarz-rot-goldene Fahne feierlich getauft (ein später oft wiederholtes völkisches Zeremoniell). Der Verein gehörte dem Turnkreis „Deutsch-Österreich“ der 1868 gegründeten Deutschen Turnerschaft an.

Franz Xaver Kießling war Antisemit. Aus ‚tiefsten Herzen‘, nicht aus parteipolitischer Gesinnung, wie er immer wieder behauptete. Er machte seinen Verein 1887 „frei von Juden und Fremdvölkischen“ und setzte damit im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn ein vielbeachtetes rassistisches Zeichen.

Zuerst hatte er die jüdischen Turnbrüder von der Teilnahme seines im Verein eingeführten „Hellenistischen Fünfkampfes“ ausgeschlossen. Der Wettkampf lehnte sich an den antiken Pentathlon an, wobei die Griechen nun nicht unbedingt Arier waren. Kießling ließ den Wettkampf in griechischen Gewändern, mit Helm, Schwert und Schild austragen. Nach seiner Überzeugung war das kein Wettkampf für Juden, sondern nur für Angehörige ‚germanischer‘, also deutscher Stämme. Durch Manipulationen und Geschäftsordnungstricks gelang es ihm 1887, eine zwei Drittel-Mehrheit für den Ausschluss der Juden im Verein durchzusetzen. Dazu warb er aus den antisemitischen Kreisen und Vereinigungen Wiens neue Mitglieder an, die in geschlossener Formation Mitgliederversammlungen dominierten und schließlich die notwendigen Abstimmungsmehrheiten herbeischafften. Anstehende Satzungsänderungen hatte er in den Einladungen verschwiegen und dadurch ‚seine‘ Mehrheiten durchgesetzt. Dieser erste „Arierparagraph“ in einer Vereinssatzung betraf von den 1.100 Mitgliedern des 1. Wiener Turnvereins immerhin 500, und zwar 480 jüdischer Abstammung und 20 aus Fremdvölkern. Die Ausgeschlossenen gründeten den ‚Deutsch-Österreichischen Turnverein‘.

 

 

Programm zum 4. Bundesfest Berlin 1903 und Werbemarke des DTV Berlin zum 25. Jubiläum 1915. Fotos: Sammlung Nippe.

 

 

 

Die ‚völkische Turnfehde‘ trennt Deutschland und Österreich

Der antisemitische Oberturnwart Kießling wollte aber mehr, alle Turnvereine in Deutsch-Österreich sollten ‚judenfrei‘ werden.

Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihm und seinen Helfern einen großen Teil der Vereine des Niederösterreichischen Turngaus auf antisemitische Linie zu bringen. Er sprach vom „Volkstumskampf“ und war überzeugt, im Sinne von Turnvater Jahn, dem Erfinder des Begriffs Volkstum, zu handeln. In der Donaumonarchie gab es ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Länder und Ethnien nur auf dem Papier, im täglichen Leben fielen nationalistische Parolen, ob nun deutsch oder slawisch, auf fruchtbaren Boden.

Die Deutsche Turnerschaft unter Führung von Dr. Ferdinand Goetz verfolgte die Entwicklung mit Sorge und sah darin den Versuch einer Spaltung des größten Turnverbandes des Reichs. Die Trennung von Turnen und Politik, vornehmlich Parteipolitik, war seit 1868 Grundgesetz der Deutschen Turnerschaft. Der sich abwechselnd liberal oder kaisertreu gebende Dr. Goetz hatte kein Problem mit jüdischen Mitgliedern und hielt die ständigen Querelen der Österreicher für parteipolitisch gesteuert. Der Deutsche Turntag 1887 diskutierte sehr heftig die Situation in Österreich und setzte 1888 mit dem Ausschluss des Niederösterreichischen Turngaus aus der Deutschen Turnerschaft den Schlusspunkt. Das führte fast zwangsläufig 1889 zur Gründung eines antisemitischen Deutschen Turnerbundes in Wien.

Franz Xaver Kießling nahm den Ausschluss zum Anlass, mit Unterstützung der bei dem jungen Hitler nicht unbekannten Parteipolitikern Georg Ritter von Schönerer, Ehrenmitglied zahlreicher Turnvereine, und Karl Lueger, dem späteren Wiener Oberbürgermeister, einen ‚rabiaten Antisemitismus‘ in den deutschsprachigen Turnvereinen zu propagieren. Mit Erfolg, im Jahr 1905 erklärte der gesamte Turnkreis 15 – Deutsch-Österreich – seinen Austritt aus der Deutschen Turnerschaft. Er war 1868 maßgeblich an deren Gründung beteiligt und bisher ihr einziger ausländischer Mitgliedsverband gewesen.

Der Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Turnerschaft, Dr. Ferdinand Goetz, hatte die politische Haarspalterei der Österreicher nun endgültig satt und gründete für die Ausgeschlossenen einen neuen Turnkreis 15 b, ein mit großer Wut von den Antisemiten aufgenommener Beschluss. Das letzte Band zwischen den deutschen und den völkischen Turnern und Turnerinnen war damit bis in die dreißiger Jahre zerschnitten. Als ‚völkische Turnfehde‘ gingen die jahrelangen Auseinandersetzungen in die Turngeschichte ein. Einige Vereine sprachen auch von einer ‚deutsch-nationalen Turnfehde‘, so der antisemitische Akademische Turnverein von Berlin 1860 in einer Flugschrift, in der er Partei für die Österreicher nahm. Eine große Anzahl von Beschlüssen und Resolutionen, Zeitungsberichten über Anfeindungen und persönliche Beleidigungen sowie von beiden Seiten veröffentlichten Streit- und Kampfschriften liegen in den Archiven. Dazu gehören die umfangreichen Schriften von Franz Xaver Kießling, die er seit 1887 und zuletzt 1940 veröffentlichte. Durch Detailversessenheit, Selbstlob und endlose Schachtelsätze sind sie so gut wie unleserlich.

Geschichtsbuch von Prof. Mehl und Werbemarke Jahn. Fotos: Sammlung Nippe.

 

Völkische Turnvereine in Deutschland

Der österreichische Deutsche Turnerbund unterhielt im Deutschen Reich Zweigstellen in Leipzig und Berlin. Seinen Kreisen ‚Norddeutschland‘ und ‚Mitteldeutschland‘ gehörten 10 Turngaue mit 185 Turnvereinen und annähernd 10.000 Mitgliedern an. Sie nannten sich in der Regel ‚Deutscher Turnverein (DTV)‘ und trugen das Hakenkreuz in 4 F Form als Bundeszeichen.

In Berlin gründeten Antisemiten aus den Vereinen Berliner Turnerschaft, TV Gesundbrunnen, TV Froh und Frei und dem Zehlendorfer TV im Jahr 1890 den „Deutschen Turnverein Berlin“. 1892 folgte mit Vereinen in Angermünde und Storkow die Gründung des Turngaus Brandenburg. Um die Jahrhundertwende waren es in Berlin und im Umland schon 30 völkische Vereine, die 1903 zum 4. Bundesturnfest des Deutschen Turnerbundes nach Berlin auf den Turnplatz in der Hasenheide einluden. Neben Juden waren auch ungarische Arier und später auch Marxisten ausgeschlossen.

Wettkämpfe wurden nur mit Vereinen ‚germanischer Stämme‘ ausgetragen, internationale Veranstaltungen und Olympiaden wurden verdammt. Die von der Deutschen Turnerschaft veranstalteten Deutschen Turnfeste wurden als ‚nicht judenfrei‘ gemieden. Man blieb unter sich, Sportkontakte reduzierten sich auf Österreich und den nach dem 1. Weltkrieg in der CSR gegründeten Bruderverband, den Deutschen Turnverband der Sudetendeutschen.

Wesentlicher Bestandteil des Verbandsprogramms war eine ‚völkische Prüfung‘, die vor Wettkämpfen abgenommen und nach Punkten bewertet wurde. Das war Aufgabe der ‚Dietwarte‘, die für die völkisch-politische Erziehung – man behauptete ‚im Sinne Jahns‘ – verantwortlich waren. Sie stand unter dem Bundesmotto „Rassenreinheit, Volkeseinheit und Geistesfreiheit“. Wehrturnen, Mannschafts- statt Einzelkämpfen, so auch der von Kießling kreierte Fünfkampf, Eichenkränze anstelle von Ehrenpreisen, waren vorgeschrieben. Gefeiert wurden Ereignisse aus der deutschen Geschichte, Sonnenwend- und Julfeste. Im Kalender wurden altdeutsche Namen verwandt, Germanenkult und Thing-Festspiele bei Turnfesten gepflegt. Für eine breite Öffentlichkeitsarbeit hatte sich in Berlin ein Ableger des in Wien beheimateten „Jahn-Bundes“ gegründet.

 

NS-Publikation „Sport und Staat“ von 1936. Fotos: Nippe

 

 

Der ‚Arierparagraph‘ wird Allgemeingut

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges, der Abdankung des Kaisers in Deutschland und der Auflösung des Vielvölkerstaats an der Donau waren die aus Wien vom DTB gesteuerten völkischen Turnvereine nicht nur antisemitisch, sondern nun auch erbitterte Gegner liberaler Staatsformen mit demokratischen Parteien und Parlamenten. Trotz propagierter Unparteilichkeit hatte der DTB nichts dagegen, dass seine Pressemitteilungen seit den zwanziger Jahren regelmäßig im ‚Völkischen Beobachter‘ der NSDAP abgedruckt wurden.

Hitler forderte 1923 die Veranstalter des Deutschen Turnfestes in München auf, „jüdische, amerikanische und sonstige nichtdeutsche Turnvereine“ nicht nach München, „der Hochburg des völkischen Befreiungsgedankens“ einzuladen. Sein Aufruf an die ‚großdeutschen Gliederungen‘ der Partei wurde auch von seinen Vasallen in Österreich und in der Tschechoslowakei unterzeichnet. Während des Turnfestes sprach er im Zirkus Krone zu 5000 völkischen Turnern, die nach München gekommen waren. Anschließend gab es Schlägereien mit der Polizei, die von der Turnfestleitung und der Presse totgeschwiegen wurden.

Die vom Deutschen Turnerbund in seiner ‚Bundesturnzeitung‘ verbreiteten antisemitischen Tiraden richteten sich zunehmend an die ‚verjudete‘ Deutsche Turnerschaft im Nachbarland. Der Deutschen Turnerschaft, größter Sportorganisation der Welt, gelang es trotz vieler Anfeindungen innerer Kämpfe bis 1933 ihr Grundgesetz der parteipolitischen Neutralität zu verteidigen. Auch der Antisemit und Führer der Turnerjugend, Dr. Edmund Neuendorff, dessen Jugendausschuss seit 1930 zu neunzig Prozent aus Nationalsozialisten bestand, wurde von der Kritik aus Wien nicht verschont und als großer Zögerer und Meister der ‚Drehwende‘ verunglimpft. Neuendorff führte die Deutsche Turnerschaft 1933 begeistert in das Dritte Reich und wurde noch vor dem Stuttgarter Turnfest durch den Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten abgelöst. Er hatte die naive Vorstellung vertreten, die Turnerschaft zu einer der Säulen der NSDAP zu machen. Die politische Drehwende machte nun 1933 mit Bravour die Deutsche Turnerschaft. Sie wechselte ihre Führung aus und übernahm sang und klanglos die programmatischen Ziele der völkischen Turner und reichte diese gleich an den neuen ‚Reichsbund für Leibesübungen‘ weiter. Dazu gehörten reichsweit der Arierparagraph, das Wehrturnen, die Lagererziehung der Jugend sowie die Einführung des Dietwesens einschließlich völkischer Prüfungsfragen. Reichsdietwart wurde Kurt Münch, der Vorsitzende des DTV Frankfurt/Main, sein Stellvertreter Wilhelm Schneemann, Vorsitzender des völkischen Turngaus Bayern. Der Berliner DTB-Funktionär Willi Buch wurde Herausgeber der für alle Sportvereine verbindlichen Schrift „Deutschkunde“ und fungierte als Schriftleiter der „Deutschen Turnzeitung“ der DT und als Nachfolger von Xaver Kießling der „Turnerischen Zeitfragen“ des völkischen Jahnbundes. Drei Namen, die bis zum Ende des Dritten Reiches in unsäglich hasserfüllten Beiträgen in der Monatszeitung „Der Dietwart“ und der Reichsbundzeitung „NS Sport“ als Antisemiten hervortraten.

 

 

Völkisch-Antisemitische Zeitungen „Turnerische Zeitfragen“ des Jahnbundes und des Deutschen Turnerbundes Berlin. Fotos: Sammlung Nippe.

 

Völkisch-antisemitische „Deutsche Turnvereine“ vor 1933 in Berlin und Brandenburg.

 

 

 

 

 

 

In Berlin entsteht ein völkischer Großverein

In Berlin kam es 1933 zu einem außergewöhnlichen Vorgang. Die neue Regierung hatte den Anschluss der bisherigen Mitgliedsvereine des österreichischen Deutschen Turnerbundes an die Deutsche Turnerschaft und damit den Reichsbund für Leibesübungen angeordnet. Das war nicht gegen den nazifreundlichen DTB in Wien gerichtet, vielmehr sollte durch den Zustrom der völkischen Turner die Deutsche Turnerschaft schneller auf nationalsozialistischen Kurs gebracht werden. In Berlin betraf diese Anordnung über 35 „Deutsche Turnvereine“. Diese Vereine hielten sich für Vorbild-Antisemiten und befürchteten, ihre bisherigen ‚völkischen Alleinstellungsmerkmale‘ und langjährigen Ideale im Verbund mit den bürgerlichen Vereinen der Deutschen Turnerschaft zu verlieren. Sie gründeten deshalb einen Dachverein „Deutscher Turnerbund Berlin e.V.“ und beschlossen die Löschung ihrer Vereine im Vereinsregister. Ein Novum. Wer Fusionen von Sportvereinen kennt, kann ermessen, welche ideologische Verbohrtheit zu einem solchen Schritt geführt haben muss. In den Berliner Bezirken und Ortsteilen seit Jahrzehnten bestehende, gesellschaftlich und kommunalpolitisch vernetzte Turnvereine opferten freiwillig ihre Selbständigkeit, überschrieben ihren Vereinsbesitz und degradierten ihre bisherigen Vorstände zu nur noch  Gruppenleitern. Das alles für ein völkisches Erstgeborenenrecht im neuen Staat, man glaubt es nicht. (Im alten West-Berlin ist es nie gelungen, drei Fußballclubs zu einem ‚1. FC Berlin‘ zu vereinen.)

Die Gründung des neuen Dachvereins war ein Erfolg: In den Mitgliederstatistiken der Deutschen Turnerschaft rangierte der „Deutsche Turnerbund Berlin“ in den Jahren 1933 und 1934 mit mehr als 3.000 Mitgliedern an zweiter Stelle nach der Berliner Turnerschaft, 1935 an dritter Stelle nach der BT und der Turngemeinde in Berlin. Er war damit auf Reichsebene der viert- bzw. fünftgrößte Turnverein. Zur 50-Jahrfeier im Jahr 1940 vermerkt die Festschrift (s.Abb.) noch 1.428 Mitglieder. Eine Zahl, die sich wegen des Verbots des Vereinswechsels während des Krieges bis 1945 nicht wesentlich verändert haben wird. Aus der Festschrift geht hervor, dass es 1933/34 einige Abweichler gab. Drei Gruppen wurden aufgelöst. Die Deutsche Turngemeinde Hermsdorf fusionierte mit einem bürgerlichen Turnverein des Ortes außerhalb des neuen Vereins und der DTV Jahn Weißensee weigerte sich standhaft, in den DTB Berlin aufzugehen. Auch die rd. 28 völkischen Turnvereine Brandenburgs gingen eigene Wege, da sie nach der von der NSDAP durchgesetzten Gauaufteilung nicht zu Groß-Berlin gehörten.

Ab 1936 gab es die Deutsche Turnerschaft sowieso nicht mehr, die Verbände wurden aufgelöst oder degradiert. Alle Sportvereine wurden direkte Mitglieder des NS Reichsbundes für Leibesübungen und zentral den Fachämtern ihrer Sportarten zugeteilt..

 

 

Von Österreich nach Deutschland

Mit dem Anschluss Österreichs 1938 kamen die völkischen Turnvereine des DTB zum NS Reichsbund und konnten ihre 1934 verbotenen Fahnen mit den 4 F in Hakenkreuzform wieder ausrollen. Der DTB und seine Vereine waren von 1933 bis 1937 durch die ‚Sport- und Turnfront‘ des diktatorischen Ständestaates unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden. Hauptgründe waren ihre Parteinahme für die verbotene NSDAP und die Mitwirkung bei Angriffen auf christlich-deutsche Turner und der Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Während die Arbeitersportvereine aufgelöst wurden, konnten die DTB-Vereine eine Neuzulassung durch den ‚Obersten Sportführer‘, Vizekanzler Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg, beantragen. Dazu war 1937 eigens eine ‚Österreichische Turnerschaft‘ gegründet worden. Wegen des im März 1938 erfolgten Einmarsches der deutschen Wehrmacht kam es dazu in den meisten Fällen nicht mehr. Nach dem Anschluss Österreichs wurden die jüdischen Sportvereine sofort liquidiert, während die völkischen Turnvereine mit ihren rd. 116.000 Mitgliedern im neuen Gau Ostmark des Reichsbundes mit offenen Armen empfangen wurden. Reichssportführer von Tschammer und Osten verlieh Franz Xaver Kießling 1938 den Ehrenbrief des NS Reichsbundes für Leibesübungen mit der ausdrücklichen Widmung „Dem Schöpfer des Arierparagraphen“. Hitler dankte dem Deutschen Turnerbund und den völkischen Turnvereinen in einem Telegramm herzlich „für die Verdienste des Turnerbundes für das Deutschtum und die nationalsozialistische Bewegung in der Ostmark“. Damit wurde die bis 1933 öffentlich propagierte Unparteilichkeit endgültig ad absurdum geführt. Den langjährigen Führern des Deutschen Turnerbundes, Bundesobmann Hofrat Klaudius Kupka und Bundesdietwart Friedrich Rudolf Zenker, widmete der Österreichische Turnerbund (ÖTB) nach dem Krieg ehrende Nachrufe.

 

 

Hitler dankt dem Deutschen Turnerbund nach dem Einmarsch in Österreich.

 

Die Sudetendeutschen kommen dazu

Wenige Monate später folgte der Anschluss der völkischen Turnvereine des Deutschen Turnverbandes der Sudetendeutschen. Der Verband musste sich 1919 auf Anordnung der tschechischen Regierung vom Deutschen Turnerbund trennen, der dadurch 70.000 seiner 110.000 Mitglieder verlor. Die Satzungen, Ordnungen und Ziele des neuen „Deutschen Turnverbandes (DTV)“ einschließlich des Arierparagraphen und der völkischen Prüfung entsprachen denen des Deutschen Turnerbundes. Unter Führung seines Hauptamtlichen Verbandsvorsitzenden und Turnschuldirektors Konrad Henlein, schloss sich der DTV immer mehr den Nationalsozialisten und deren ‚Heim-ins-Reich-Parolen‘ an. Henlein übernahm 1933 die Führung der Sudetendeutschen Heimatfront und späteren Sudetendeutschen Partei. Sein Nachfolger im Deutschen Turnverband wurde Willi Brandner. Die sudetendeutschen Turner hatten 1938 mit Henlein und Brandner beim Deutschen Turn- und Sportfest in Breslau ihren großen Auftritt vor den Augen des Führers. Henlein, der eigentlich auf einen Ausgleich zwischen der Mehrheiten und Minderheiten in der CSR aus war und in Hochachtung von der slawischen Turnbewegung des Sokol sprach, wurde nach dem Münchener Abkommen und der Zerschlagung der Tschechoslowakei Hitlers Gauleiter und Reichsstatthalter. Brandner übernahm den neuen Gau 18 – Sudetenland – im NS Reichsbund für Leibesübungen. Er hatte sich aus den 1.200 Vereinen und 213.000 Mitgliedern des DTV gebildet und konstituierte sich feierlich im Kuppelsaal des Reichssportfeldes. Die tschechischen, jüdischen und katholischen Sportvereine und Arbeitersportorganisationen sowie der kleine Rest des alten DT-Turnkreises 15 b wurden verboten und aufgelöst. Auch die starken tschechischen national-slawischen Sportbewegungen des Sokol und des kleineren katholischen Orel mit zusammen mehr als 900.000 Mitgliedern wurden schließlich 1941 liquidiert. Das seit 1888 in Österreich und in Nordböhmen angehäufte völkische Gedankengut sollte vornehmlich mit den heimatvertriebenen Sudetendeutschen in der Bundesrepublik ankommen.

 

Werbung für das Deutsche Turn- und Sportfest Breslau 1938 und Werbeschrift des sudetendeutschen Turnverbandes. Fotos: Sammlung Nippe.

 

 

Nach 1945: Keiner weiß mehr was.

Nach 1945 war das antisemitische Bekenntnis von Vereinen vor 1933 nicht mehr gefragt. Schließlich hatten alle deutschen Sportvereine den Arierparagraphen eingeführt und taten sich schwer, diesen und ihre Vergangenheit auch nur zu erwähnen. Der Wiederaufbau des Sports in West und Ost stand im Vordergrund, die Frage nach der eigenen Schuld wurde nicht gestellt. Das Handeln trat an die Stelle des Nachdenkens.

Ein Berliner Verein hatte keinen Skrupel, den alten seit 1905 bestehenden Vereinsnamen wieder anzunehmen, der DTV Charlottenburg. Zur 50- und 75-Jahrfeier herausgegebene Festschriften vermerken zwar die Gründung ‚als Verein des Deutschen Turnerbundes‘, doch kaum jemand wusste noch um die Bedeutung dieser völkischen Organisation. Es fiel auch nicht auf, dass in den Jahren vor 1933 ausschließlich über Sportbegegnungen mit österreichischen und sudetendeutschen Vereinen berichtet wurde. Die obligatorischen Berichte über die Teilnahme an Deutschen Turnfesten fehlten. Auf den Fotos der Chroniken von 1955 und 1980 ist das DTB-Logo in Form des Hakenkreuzes gut zu erkennen. Der erste Vorstand setzte sich aus österreichischen und sudetendeutschen Funktionären zusammen. Keiner stellte Fragen, der Vorsitzende des Berliner Turnerbundes dankte dem Verein für ‚seine turnerische Gesinnung‘. 1991 wurde der DTV Charlottenburg aufgelöst, seine erfolgreiche Basketballabteilung hatte ihn in die Insolvenz getrieben. Über einen Nachfolgeverein entstand der Bundesligaclub Alba Berlin.

 

Festschrift DTV Charlottenburg 1980

 

Das schwierige Erinnern der „braunen“ Sportvereine

Wenn heute der Begriff des ‚Völkischen‘ wieder aktuell wird, sollten wir uns der frühen antisemitischen Sportvereine in Deutschland erinnern. Nicht nur der Vereine des Deutschen Turnerbundes, der akademischen und sudetendeutschen Vereine, sondern auch der in anderen Sportarten praktizierten Ausgrenzung von Juden und Fremden. Während der NS-Zeit glorifizierten Vereine die Aufnahme von vor 1933 verbotenen Gliederungen der NSDAP und Hitlerjugend in ihren Sportgemeinschaften. Einige bezeichneten sich selbst als ‚brauner Verein‘, z.B. der TV Friesen Neukölln 1887 zur 50-Jahrfeier, einer der drei Gründungsvereine des heutigen TuS Neukölln 1865. Festschriften aus jüngster Zeit klammern diese ‚Vergangenheit‘ leider oft aus. So wird die 1922 erfolgte Abspaltung von Spitzenleichtathleten des von Carl Diem gegründeten traditionsreichen ‚Berliner Sportclubs‘ (BSC), dem auch jüdische Mitglieder angehörten, mit ‚Führungsproblemen‘ beschrieben, während es tatsächlich um Antisemitismus ging. Der von den Ausgetretenen gegründete „Deutsche Sportclub (DSC)“ wies in der Nazizeit stolz darauf hin, schon von Anbeginn ‚gleichgeschaltet‘ gewesen zu sein. Der DSC war später Mitbegründer des ISTAF und gehört zu den Stammvereinen des heutigen Olympischen Sport-Clubs Berlin.

Viele der einstigen Funktionäre der völkischen und braunen Vereine sind nach 1945 in der Versenkung verschwunden. Für die Turner und Sportler waren die Vereine in der Nachkriegszeit ein Stück Heimat. Bei vielen rangierte der Verein weit vor der Parteipolitik. Man war bereit, zu vergeben damit der Verein keinen Schaden nahm. Im zweiten Anlauf schafften es auch Funktionäre aus oberen Ebenen des NS-Sports, wieder in Ämter und Würden zu kommen. In Berlin wurde der Landessportbund (damals Sportverband Groß-Berlin) vom ‚Verband der Vereine‘ in einen ‚Verband der Verbände‘ umgewandelt. In der DDR und Ost-Berlin gab es weniger Chancen für Altgediente, da bürgerliche Vereine nicht mehr zugelassen wurden und ein Einheitsverband nach sowjetischen Sportstrukturen entstand.

Wer genauer hinsehen und der eigenen Vereinsgeschichte nachgehen möchte, muss sich die Frage stellen, wo diese Alt-Antisemiten geblieben sind. Es lohnt sich, auf Spurensuche in den Landesarchiven zu gehen und Vereinsakten, Protokolle und Vorstandslisten einzusehen. Ein Verschweigen der Vergangenheit können wir uns vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme in Europa nicht mehr leisten.

 

Erstveröffentlichung in Krüger/Steins (Hg.) „Geschichte der Körperkultur in Studien und Materialien“, Band 2, Hildesheim, 2017.

Power-Point-Vortrag beim XVIII. Lanzer Jahn-Kolloquium vom 15. Juni 2017 in Lanz b./Lenzen. 

 

Literaturhinweise

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Bundesturnzeitung des Deutschen Turnerbundes: Jahrgang 1933. Wien (1933)

Deutscher Reichsbund für Leibesübungen: Amtliches Anschriftenverzeichnis Berlin-Brandenburg für 1938/1939

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Deutscher Turnverein Charlottenburg: Festschriften 1955 und 1980

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Henlein, Konrad: Reden und Aufsätze zur Völkischen Turnbewegung 1928 – 1933, Karlsbad (1934)

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Kießling, Franz: Beiträge zur Geschichte der völkischen Turnfehde. Verlag Deutsche Wacht, Wien (1900-1905)

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Peiffer, Lorenz: Die Deutsche Turnerschaft in der Zeit der Weimarer Republik und der Nationalsozialisten, Ahrensburg (1976)

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Wöll, Ingolf: Turnen und Sport – Zurück für die Zukunft, Sport Union NÖ (2005)

Wöll, Ingolf: Turnen in Österreich, Onlinefassung (2017)

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