So ruft der Berliner AfD-Vorsitzende zur gezielten Unterwanderung der dem Neutralitätsprinzip verpflichteten Sportvereine auf, wenden sich Bundesligafußballclubs in Frankfurt, Hamburg und Leipzig gegen rechtspopulistische Mitglieder und rassistische Ultra-Fans. Eine politische Stiftung der rechtsextremistischen AfD in Magdeburg eignet sich den Namen von Friedrich Friesen, dem Vorkämpfer für Demokratie und Freiheit, an. Vom Verfassungsschutz beobachtete ‚Identitäre Bewegungen‘ veranstalten in mehreren Bundesländern Wehrsportübungen unter dem Namen ‚Sektion Jahn‘, das Bildnis des Turnvaters wirbt dafür auf Plakaten.
Der Sport ist als Bürgerbewegung und von seinen gesellschaftlichen Aufgaben nicht unpolitisch. Seine Vereine sind aber unabhängig und ‚gehören‘ keinen Parteien. Parteipolitische, religiöse und rassistische Bestrebungen sind in den Satzungen ausgeschlossen. Wie soll sich ein Sportverein verhalten, wenn Extremisten und deren Organisationen gleich welcher Couleur an seine Tür klopfen und um Aufnahme begehren? Muss er darüber schweigen und Unruhe in der Mitgliedschaft vermeiden? Das sind nicht juristische Fragen, sondern Aufforderungen zum eigenen klugen Handeln der Vereinsvorstände, zum Erhalt von Bürgerwerten und Zeigen von Zivilcourage. Es geht um sportliches, friedliches und faires Miteinander. Wer sich daran hält, muss willkommen sein oder er bleibt draußen.
Blicken wir zurück wie vor 50 Jahren mit aktuellen oder rückwärtsgerichteten Bestrebungen umgegangen wurde und ob wir daraus etwas gelernt haben. Das waren nicht nur die großen Diskussionen der Vergangenheit um Entnazifizierung und Demokratie, Wiederbewaffnung und Atomraketen, Kalter Krieg und Ostverträge, Integration von Flüchtlingen oder der Beitritt des DDR-Sports in den der Bundesrepublik. Viel kleiner: Als Beispiel nehmen wir den „Jahn-Bund“, der in den siebziger Jahren antrat, den zweitgrößten Sportverband der Bundesrepublik, den Deutschen Turner-Bund (DTB), aus den Angeln zu heben. Der Verband hat damals nach einiger Bedenkzeit politisch reagiert und sich gegen Nationalismus gewehrt. Die damals zwei Millionen DTB-Mitglieder haben davon kaum etwas bemerkt, weil sie Sport treiben wollten. Das ist heute nicht anders. War der Jahn-Bund nur ein Sturm im Wasserglas? Ist der Sport gegen Nationalismus und Populismus gefeit?
Der Jahn-Bund – zurück in die Vergangenheit
Am 21. Oktober 1974 wurde in das Vereinsregister Augsburg der „Jahn-Bund e.V.“ eingetragen. Der Vereinsname wurde später um den Zusatz Not- und Schutzgemeinschaft ‚Volkserziehungswerk Turnen nach Friedrich Ludwig Jahn‘ erweitert. „Bundesvorsitzer“ – nicht Bundesvorsitzender – des Vereins ist seit 1974 der Augsburger Rechtsanwalt Konrad Hoffmann. Der Verein ist juristisch noch aktiv (Vereinsregister Augsburg VR 767).
Der Jahn-Bund brachte nach seiner Gründung Unruhe in den Deutschen Turner-Bund und dessen Landesverbände und Vereine. Unter der Überschrift „Es lebe unser Volk! Heil deutsches Turnen!“ verursachte er in Druckschriften wie den ‚Blättern für deutsches Turnen‘ und Eingaben an Persönlichkeiten in Sport und Politik ein publizistisches Feuerwerk gegen den Deutschen Turner-Bund und dessen satzungsgemäßen Anspruch „Träger der Jahnschen Idee“ zu sein. Turnbrüder und Turnschwestern forderte er zur Mitgliedschaft im Jahn-Bund mit den Worten auf: „Bewahret Euch und der Jugend unseres gewaltsam getrennten Volkes und Vaterlandes die umfassenden, gesinnungsgebundenen Gemeinschaftswerte deutschen Turnens“. Der Jahn-Bund bezog sich auf die Schriften von Jahn „Deutsches Volkstum“ (1810) und „Deutsche Turnkunst“ (1816), deren ‚dort genannte Grundsätze waren, sind und bleiben unbeschadet sich ändernder Formen die unverzichtbare Richtschnur turnerischer Lebensweise‘. Das 1975 in Berlin stattfindende Weltturnfest der Gymnaestrada überschwemmte er mit seinen Druckschriften, Post- und Merkkarten (s. Abb.).
Der Deutsche Turner-Bund wandte sich gegen diesen nationalistischen Feldzug und erklärte durch einstimmigen Beschluss seines Hauptausschusses am 20. September 1975: „Eine kritiklose Übernahme der Ideen Jahns ohne Berücksichtigung der Zeitgeschichte bedeutet eine Verfälschung des Jahnbildes. […] Nationalistisches Denken vereinbart sich nicht mit dem Wesen des Deutschen Turner-Bundes“.
Bundespressewart Karl Hoffmann kommentierte die Diskussionen und Anfeindungen mit den Sätzen: „Der Jahn-Bund ist des Turnvaters größter Feind. Die Schutzgemeinschaft vegetiert in der Vergangenheit. Würde Jahn heute leben, wäre er ein überzeugter Europäer – reaktionäre Spinner mild belächelnd“. Das war eine klare Ansage.
Nachdem der Jahn-Bund keine Ruhe gab und die „echten Turnvereine“ zum Austritt aus dem Turnerbund aufforderte, wurde im Vorfeld des 200. Geburtstages von Friedrich Ludwig Jahn und vor allem des Deutschen Turnfestes in Hannover dieser Beschluss noch einmal zu Beginn des Jahres 1978 unter Beifügung einer Stellungnahme des Jahn-Bundes in der Verbandszeitung ‚deutsches turnen‘ veröffentlicht. Zu den Deutschen Turnfesten 1978 in Hannover und letztmalig 1983 in Frankfurt gab es noch vereinzelte Aktionen der Jahnbündler. So zum Beispiel Aufkleber auf Turnfestplakaten wie „Echtes Turnen ist mehr als Sport“, „Turnen gemeinschaftsgeübt an Körper und Geist, sittenfest, volkstreu und vaterlandsbewußt“ oder provoziert durch den Frankfurter Tuju-Treff mit Rock-Fete „Aller Jazz ist und bleibt unvereinbar mit deutschem Turnen nach Jahn“. Seitdem herrscht Ruhe, also alles vergessen und vergeben?
Der Jahn-Bund kann als ein „Aufstand der Gestrigen“ innerhalb der jüngsten Turngeschichte beschrieben werden. Aber er muss auch die Frage provozieren, wer die Deutungshoheit über die „Jahnsche Idee“ hat und was der Deutsche Turner-Bund dafür getan hat. Wie kam es zum Jahn-Bund?
Aufkleber des Jahn-Bundes
Die Urheber – ein Rechtsanwalt und zwei Turner-Größen
Die führenden Vorstandsmitglieder des Jahn-Bundes waren der „Bundesvorsitzer“ Konrad Hoffmann (geb. 1924) und seine Vertreter Franz Wilhelm Beck (1900 – 1978) und Prof. Dr. Erwin Mehl (1890 – 1984).
Konrad Hoffmann ist in Breslau geboren und hat als Völkerrechtler und Notar Karriere in Augsburg gemacht. Er zählt zum rechtsextremen Lager, so war er seit den achtziger Jahren u.a. Gründer und Präsident der „Vereinigten Länder des Deutschen Ostens im Deutschen Reich“, ein früher Akteur der heute vom Verfassungsschutz beobachten ‚Reichsbürger‘. Er pflegte enge Kontakte zum Österreichischen Turnerbund (ÖTB) und dessen (damaliger) kritikloser und gläubiger Jahn-Verehrung. Turnvereine waren für ihn ‚Gesinnungsgemeinschaften‘, denen sich die Turnerinnen und Turner unterzuordnen haben. Das ‚Volkserziehungswerk Turnen‘ verlangte von seinen Mitgliedern die geschichtsbewusste Pflege deutschen Volkstums und die ‚Erziehungsbereitschaft‘ zur Verbindung mit Volk und Vaterland. Für die Berücksichtigung der jeweiligen Zeitumstände, einer Weiterentwicklung des Begriffes Turnen und offener Kritik am Volkshelden Jahn fehlte ihm jedes Verständnis. Das er genügend Unterstützer in Österreich und der Bundesrepublik fand ist offensichtlich, auch wenn wissenschaftliche Untersuchungen darüber noch fehlen.
Konrad Hoffmann war beim DTB-Bundesvorstand kein Unbekannter, auch wenn man ihn als „Jedermannturner“ diskreditierte. Ende der sechziger Jahre hatte er mit dem Bayerischen Landessportverband und dem regionalen Turnerbund einen bundesweit beachteten Streit angefangen. Es ging um die Aufteilung der Mitgliedsbeiträge der von den Turnvereinen zu meldenden Mitglieder und deren Zuordnung zu anderen Fachverbänden als dem DTB. Ganz im Sinne „Jahnschen Turnens“ sollten Laufen, Springen, Werfen, Schwimmen, Fechten und Wandern zusammen mit den Turnspielen zum Turnen, nicht zum Sport gehören. Rechtsanwalt Hoffmann unterlag, fand aber bei einigen Turnfunktionären Sympathien für sein Anliegen.
Einer seiner Helfer war Franz Wilhelm Beck, Ehrenmitglied des DTB und hochgeehrter hessischer Turnvater. Er war von 1933 – 1945 NS-Turnfunktionär und richtete nach erfolgreicher Entnazifizierung 1948 das Frankfurter Turnfest aus. Er war langjähriger Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sportämter. Als Leiter des Sport- und Jugendamtes Wiesbaden hatte er sich 1952 zum 100. Todestag von Friedrich Ludwig Jahn in Zeitungsbeiträgen und einer von ihm verfassten Jahn-Biografie hervorgetan. Das Leben und Wirken des Turnvaters sah er nach der Niederlage von 1945 und der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten als noch verbleibendes Vorbild für die heranwachsende Jugend. Ein kleines Heft mit Auszügen aus seinem Jahnbuch erhielten alle Jugendlichen beim Eintritt in die hessischen Turnvereine. Er sah Jahn als Volkserzieher und Kämpfer für die deutsche Einheit. In Zeiten des Kalten Krieges dominierten Pathos und Anti-Kommunismus, keiner stellte Fragen zur NS-Vergangenheit und der plötzlichen Verwandlung früherer Funktionärsriegen in lupenreine Demokratenteams. Agitatorisch beschäftigte sich die DDR gern mit der NS-Vergangenheit von BRD-Sportfunktionären, so auch mit Franz-Wilhelm Beck im Jahn-Jahr 1952[ii] (Thilo, 1952). Zur Deutschen Turnerjugend ging Beck auf Distanz, da diese seine Prämissen „Erziehung“ und „Führung“ für die Jugendarbeit nicht (mehr) teilten. Die aus heutiger Sicht harmlose Rede Jürgen Dieckerts, des früheren Bundesjugendwartes und späteren DTB-Präsidenten, beim Berliner Turnfest von 1968 war für ihn aufrührerisch. Dieckert hatte den jungen, 33-jährigen Jahn als modernen Revolutionär in den Mittelpunkt gestellt und davon abgeraten, dessen Bild kritiklos zu umkränzen. Das war Ausdruck der Jugend im Turnerbund und rückte im Blick der Alten die Turnerjugend in die Nähe der gerade begonnenen Jugendproteste der Achtundsechziger und des lauten Aufzeigens des Schweigens der Eltern- und Großelterngeneration über die NS-Zeit. Ein im DSB-Pressedienst veröffentlichter Bericht über Dieckerts Jahnrede erschien bundesweit mit der Überschrift „Tausche Jahn-Büste gegen Mini-Trampolin“. Beck, der gerade als ehrenamtlicher Präsident des Hessischen Turnverbandes in den Ruhestand gegangen war, drückte seine Empörung durch Mitgliedschaft im Jahn-Bund aus.
Prof. Dr. Erwin Mehl, der dritte im Bunde, zählte seit den zwanziger Jahren zu einem der bekanntesten Sprachforscher und Turnhistoriker im deutschsprachigen Raum. Durch seine Vorstandstätigkeit im antisemitischen Deutschen Turnerbund in Österreich, die Propagierung der „völkischen Dietarbeit“, Lehraufträgen in der NS-Zeit und Verfolgung eines nationalistischen Jahnbildes hat er große Teile seiner wissenschaftlichen Reputation nach 1945 verloren. Die Jahn-Rede von Dieckert 1968 hat er in Zeitungsbeiträgen niedergemacht.
Seine Heimat fand Mehl nach dem Krieg beim „Freiheitlichen“, so von ihm benannten Österreichischen Turnerbund, dessen Bundesvorstand 1974 Konrad Hoffmann und den Jahn-Bund unterstützte. Der ÖTB war Sammelbecken der früheren antisemitischen „Deutschen Turnvereine“ des in Wien seit 1889 beheimateten Deutschen Turnerbundes. Er stand und steht in Konkurrenz zu den in Österreich bestehenden Nachfolgeorganisationen der Katholischen Sportbewegung (Sport Union) und des Arbeitersports (ASKÖ). Der ÖTB enthält sich inzwischen eigener politischen Aussagen, hat aber im Gegensatz zu den beiden anderen Spitzenverbänden seine Geschichte noch nicht aufgearbeitet.
Vor 1945 gab es schon einmal einen Jahnbund
Die enge Verbundenheit, die sich zwischen dem Hoffmannschen Jahn-Bund und dem damaligen Österreichischen Turnerbund zeigte, hatte einen historischen Vorläufer.
Im Jahr 1915 trat in Wien der „Jahnbund“ an die Öffentlichkeit und übernahm die Herausgabe der völkisch-antisemitischen Zeitschrift „Turnerische Zeitfragen“. Franz Xaver Kießling (1859 – 1940) hatte diese 1912 aus einer Abspaltung des Deutschen Turnerbundes und des Arndt-Verbandes im Vielvölkerstaat gegründet. Kießling gilt als Urheber des „Arierparagrafen“ im Sport und hatte 1886 den 1. Wiener Turnverein und danach den Turngau Niederösterreich ‚judenfrei‘ gemacht. Dies führte zur „völkischen Turnfehde“ mit der Deutschen Turnerschaft (DT) und endete 1909 mit dem Austritt des Turnkreises „Deutsch-Österreich“ aus der DT und damit dem Abbruch der Kontakte zwischen den Turnverbänden Deutschlands und Österreichs sowie ab 1919 auch der Tschechoslowakei. Das Tischtuch war bis in die dreißiger Jahre zerschnitten.
Nach dem 1. Weltkrieg gründete sich in Berlin ein Ableger des Wiener Jahnbundes als „eingetragener Verein“. Der Vorsitzende des DTV Berlin 1890, Wilhelm Herrmann, firmierte als dessen Vorstand. Herrmann wurde 1933 Ehrenmitglied des antisemitischen Dachvereins „Deutscher Turnerbund Berlin“, der seine „Deutschvölkischen Turnblätter“ den „Turnerischen Zeitfragen“ beilegte. Die Zeitfragen erschienen bis 1936, zuletzt unter der Schriftleitung von Willi Buch. Buch redigierte in der NS-Zeit auch die „Deutsche Turnzeitung“ und hatte vor 1933 den „Völkischen Pressedienst“ des Deutschen Turnerbundes (Wien) im Reich herausgegeben. Der „Deutsche Turnerbund Berlin“ bestand bis 1945 und war 1934 nach der Berliner Turnerschaft der zweitgrößte Turnverein im Deutschen Reich.
Der Sporthistoriker Prof. Dr. Hajo Bernett hat mehrmals auf die bisher von der Geschichtswissenschaft unterschätzte Rolle des antisemitischen Deutschen Turnerbundes im Zusammenhang mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und des Anschlusses Österreichs hingewiesen. Er hat
u.a. die Täterschaft von völkischen Turnern beschrieben, die aus den „Deutschen Turnvereinen“ kamen und 1922 und 1934 die Attentate auf Reichsaußenminister Walther Rathenau und auf den österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß verübten.
Die schwierigen „Siebziger Jahre“
In der Bundesrepublik waren die 1970er Jahre gekennzeichnet vom Abbau der Ost-West-Dogmen, einem Aufbruch der Jugend und im Sport der stürmischen Entwicklung des Breiten- und Freizeitsports.
Das lange Zögern des Deutschen Turner-Bundes gegenüber dem Jahn-Bund hing mit der aktuellen Entwicklung zusammen, hatte aber auch eigene historische Ursachen. Das fing mit dem Zusammenschluss von Vereinen der ehemals bürgerlich-konservativen Deutschen Turnerschaft und den 1933 verbotenen Arbeitersportvereinen an und ging mit unerfüllten ‚Machtansprüchen‘ im 1950 entstandenen Deutschen Sportbund (DSB) – der sich nicht Deutscher Turn- und Sportbund nennen wollte – weiter.
Die Alliierten hatten 1949 die vom neuen Bund der Turnvereine angestrebte Satzungsaussage einer „Gesinnungs- und Erziehungsgemeinschaft“ abgelehnt und die DTB-Zulassung bis 1950 verzögert. Die Person des Turnvaters und des von ihm erfundenen Begriffs ‚Volkstum‘ durften schließlich in der Satzung benannt werden, allerdings unter Ausschluss von parteipolitischen, religiösen und rassistischen Bestrebungen. Ohne die von den Sozialdemokraten Dr. Walter Kolb und Oscar Drees gegenüber der Hohen Kommission der Alliierten geleisteten Überzeugungsarbeit wäre es nicht zur Gründung des Deutschen Turner-Bundes gekommen. Die Durchsetzung des Turner-Bundes und seiner Landesturnverbände mit als „Unbelastet“ oder als „Mitläufer“ entnazifizierten Funktionären des NS Reichsbundes für Leibesübungen ist in der Bundesrepublik erst im letzten Jahrzehnt erforscht und als „Hemmnis eines demokratischen Neubeginns“ bezeichnet worden[iii]. Der Jahn-Bund wollte die Gründungsgeschichte des DTB von 1950 revidieren.
Auch die Turnerjugend, die alles hinterfragte, moderne Vereine forderte und Kritik an den Alten übte, stand im Visier des Jahn-Bundes. Kritik in ihrer Zeitschrift „turnerjugend“ war unerwünscht. Nach der Dieckert-Rede von 1968 und der 1972 erfolgten Unterstützung der Ostverträge kam es zum Bruch mit der als ‚links‘ eingeordneten Turnerjugend. Hoffmann, Beck und Mehl waren sich darüber mit den Landsmannschaften, österreichischen und sudetendeutschen Turnern einig.
Aber auch der stürmische Aufbruch bei den Mitgliederzahlen der sechziger und siebziger Jahre rüttelte an alten Turnvereinsfundamenten. Wer war denn noch „gewachsener Turner“, wenn Hunderttausende mit dem Ziel des Breiten- und Freizeitsports in die Vereine drängten? Am vom Deutschen Sportbund (DSB) ab 1960 propagierten „Zweiten Weg“ zur Förderung des Breiten- und Freizeitsports beteiligte sich der DTB mit dem „Turnen für Jedermann“ und dem Ausbau des Kinder-, Frauen- und Altersturnens. Die 1970 folgende Kampagne „Trimm Dich durch Sport“ wurde eine weltweit erfolgreiche Werbung für den Sport. Ein früherer Jugendsekretär der Turnerjugend, Jürgen Palm, war dafür beim DSB verantwortlich.
Da ist es kein Wunder, dass Konservative wie Konrad Hoffmann und sein Jahn-Bund Widerstand leisteten und versuchten, möglichst viele Funktionäre der Turnverbände und Vereine auf ihre Seite zu ziehen.
Ein reger Schriftwechsel Hoffmanns liegt in den Archiven und gibt Auskunft über ein konservatives Netzwerk, nicht nur mit Franz Wilhelm Beck und Professor Mehl, sondern u.a. auch mit dem DTB-Ehrenmitglied Franz Klemm (Niedersachsen), dem Leiter der Jahn-Bergturnfeste Hermann Harting (Hessen) und mit Dr. Josef Göhler (Bayern), der „grauen Eminenz“[iv] des Deutschen Turner-Bundes in vier Jahrzehnten. Der Göhler-Nachlass im Sportmuseum Berlin harrt noch der wissenschaftlichen Auswertung.
Vielleicht liegt in diesem von Hoffmann genutzten Netzwerk die Zurückhaltung des Deutschen Turner-Bundes begründet, dem Jahn-Bund nicht sofort entschiedener entgegenzutreten und die Diskussionen erst durch einstimmigen Beschluss des Hauptausschusses – des Bundesvorstandes und der Landesturnverbände – zu beenden. Ein Beschluss des Deutschen Turntages hätte nicht die erwünschte Einstimmigkeit gebracht.
Turnvater Jahn, überall bekannt doch ohne Biografie
Der zweimalige Ehrendoktor Friedrich Ludwig Jahn war schon zu seinen Lebzeiten umstritten. Gedenksteine wurden zu seinen Ehren weltweit errichtet, aber auch immer wieder wurde er mit Steinen beworfen. Es gab und gibt den liberal-demokratischen, den aufsässig-rüpeligen Jahn genauso wie den chauvinistischen und nationalistischen Jahn. Jede Zeit hatte ihren eigenen Jahn, ob schwarz, rot, braun, gelb oder grün. Auch zwischen Ost und West gab es unterschiedliche Interpretationen. In den Bibliotheken stehen die Jahn-Bücher von Eckardt, Neuendorff und Baeumler aus der Weimarer und NS-Zeit neben denen von Beck (BRD), Lange (DDR), Frank (Sudetendeutsche) aus der Nachkriegszeit. Der Deutsche Turner-Bund hat 1961 in einem Nachwort[v] zur Neuausgabe von Jahns „Deutscher Turnkunst“ wenig zur Modernisierung des alten Jahnbildes beigetragen. Prof. Dr. Horst Ueberhorst – Herausgeber der sechsbändigen ‚Geschichte der Leibesübungen‘ – hat 1969 in seinem Buch „Zurück zu Jahn? Gab es kein besseres Vorwärts?“ die Defizite in der Jahn-Forschung aufgezeigt und eine wissenschaftliche Biografie gefordert. In mehreren Beiträgen hat er nachgewiesen, von der Jahn-Kantate beim Turnfest 1953 über das Münchener Festspiel von 1958 bis zur 150. Jahrfeier der Hasenheide 1961, welcher Anteil von NS-Relikten noch vorhanden war. Das Münchener Festspiel schrieb übrigens der Dichter Thilo Scheller, der 1933 als DT-Jugendwart zur Bücherverbrennung aufgerufen hatte und noch 1961 im ‚Feuerspiel‘ ähnliches verkündete.
1977 hat der frühere Bundeskulturwart des DTB, Dr. Rudolf Tolles, seinen Nachfolger, Dr. Josef Göhler, ultimativ und dringend aufgefordert, zum 1978 anstehenden 200. Geburtstag von Jahn eine wissenschaftliche Publikation des DTB herauszugeben und nicht auf externe Veröffentlichungen zu warten. Letzteres trat ein, der DTB hatte kein Interesse an Jahn, beteiligte sich aber am „Jahn-Symposium“ der kurz zuvor gegründeten „Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs)“ in Berlin 1978. Der dvs gelang eine Veranstaltung mit internationaler Beteiligung. Das Turnen und der Turnvater wurden weltweit gewürdigt und hinterfragt. Prof. Dr. Hajo Bernett stellte seine Forschungen zum NS-Sport und speziell der Deutschen Turnerschaft vor. Dr. Hartmut Becker ging der Frage nach, ob Jahn Antisemit war. Er verneinte dieses. Jüngste Veröffentlichungen von Prof. Dr. Hans-Joachim Bartmuß und Dr. Josef Ulfkotte sowie Prof. Dr. Wolfgang Bergmann im Handbuch des Antisemitismus unterstützen seine Aussagen. Das Symposium zeigte die wissenschaftlichen Defizite in der Jahn-Forschung und wurde in der Berliner Kongresshalle mit einer Podiumsdiskussion beendet.
Die Professoren Horst Ueberhorst, Jürgen Dieckert und Hellmut Diwald sowie NOK-Präsident Willi Daume und ZDF-Moderator Alfons Spiegel saßen damals auf dem Podium. Diwald war vielbeschäftigter TV-Professor und Festredner beim Turnfest in Hannover. Er hat Jahn in einem brillanten Vortrag als potentiellen Kandidaten für das Europa-Parlament verortet. Später wurde Diwald als einer der Vertreter der „Neuen Rechten“ zum politischen und wissenschaftlichen Außenseiter.
Die Zahl der Jahnpublikationen steigt seit der friedlichen Revolution von 1989. Wissenschaftliche Abhandlungen, Lebensbilder und Romane sind erschienen, ganzseitige Zeitungsberichte beschäftigen sich mit Jahn und der Zeitgeschichte. Gerade wurde er als der „Erste Deutsche“ bezeichnet.
Was fehlt ist nach wie ‚die‘ Biografie des Turnvaters. Wer wäre berufener als der Deutsche Turner-Bund, eine solche Biografie bei den Historikern in Auftrag zu geben? Fehlanzeige. Gerade der Millionenverband der Turner und Turnerinnen tut sich schwer mit seinem Ahnherrn.
Zu einer Neubewertung Jahns nach der deutschen Wiedervereinigung ist es bis heute nicht gekommen. Eine verdienstvolle und gut strukturierte Dissertation von Karoline Wellner erschien 2008 unter dem Titel „Der Turnvater in Bewegung“ und untersuchte die Rezeption Jahns von 1933 – 1990. Sie könnte Historiker zu einer Jahn-Biografie anregen.
Herausforderungen für die Jahn-Gesellschaft
Die ehrlichste und aktuellste Jahnrede nach der Wiedervereinigung stammt von Rainer Brechtken (DTB-Ehrenpräsident) bei der Jahnfeier am Rande des Internationalen Deutschen Turnfestes in Berlin 2017. Er wandte sich gegen jede Heldenverehrung und umschrieb die Haltung des Deutschen Turner-Bundes zu Jahn mit Kritik und Dankbarkeit. Veranstalter der Feier waren weder der DTB noch das Turnfest-OK. Auch der Berliner Turnerbund, eigentlich für die Hasenheide und die regionale Turngeschichte ‚zuständig‘, fühlte sich überfordert oder nicht berufen.
Die Jahngesellschaft aus Freyburg/Unstrut sprang auf die Schnelle ein und fand im Wiener Akademischen Turnverein, dem Verein ihres aus dem Amt scheidenden Präsidenten, einen Partner. Gut so, auch wenn eine kritische Presse nicht bereit war, das Auftreten eines mit einer Burschenschaft verbundenen Turnvereins aus Österreich zu feiern und einen mit gezogenem Degen angetretenen Burschenturner als studentische Folklore anzusehen. Es war peinlich, dass die Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Frau Franziska Giffey, von Farbanschlägen linker Gruppen in der Nacht und einer von ihr kurzfristig in Auftrag gegebenen Reinigung des Jahn-Denkmals berichten musste – das während des Internationalen ‚bunten‘ Turnfestes.
Das Bild des Turnvaters liegt, nachdem der Deutsche Turner-Bund vor dem schwierigen Erbe des Turnvaters zurückschreckt, in den Händen der 1992 gegründeten Jahn-Gesellschaft und des von ihr getragenen Jahn-Museums in Freyburg/Unstrut. Eine Riesenaufgabe und Herausforderung für Wissenschaftler, Historiker und Turngeschichtler, das Andenken des jungen Jahns und späteren Abgeordneten des ersten demokratischen Parlaments in der Frankfurter Paulskirche zu bewahren. Wie sagte Jahn: „Die Nachwelt setzt jeden in sein Ehrenrecht, denn der Geschichte Endurteil verjährt nicht“. Bis zum Endurteil der Geschichte liegen noch viele Steine am Wegesrand.
Der 1974 aus Protest der Ewig-Gestrigen gegen die Jungen gegründete Jahn-Bund ist auf Grund der Langlebigkeit seines „Vorsitzers“ noch nicht Geschichte. Er hat auf das derzeitige Erstarken rechter Populisten im deutschsprachigen Raum keinen Einfluss, unterstützt aber allein durch seine Noch-Existenz den Aufruf zur Wachsamkeit der Demokraten im Sport. Wenn es erforderlich wird, muss sich der Deutsche Turner-Bund wie 1975 gegen Nationalismus, geschürten Hass und gesellschaftliche Spaltung im Sport wehren. Das gilt exemplarisch auch für den deutschen Sport.
Erstveröffentlichung in Band 3 der
Geschichte der Körperkultur in Studien und Materialien,
(Bielefeld, 2022)
Manuskript von 2019, ohne Fußnoten und Literaturhinweise.
Anmerkung: Nach Auskunft des Augsburger Bürgeramtes von 2020 ist Konrad Hoffmann verstorben, so dass einer Löschung des Jahn-Bundes im Vereinsregister nichts im Wege steht.