Straßenumbenennungen in Berlin: Ein weites Feld für Aktivisten jeder Art.


Was wird aus Martin Luther, Richard Wagner und Turnvater Jahn?

 

Der Leipziger Journalist und Politologe Dr. Felix Sassmannshausen hat im Oktober 2021 im Auftrag des Berliner Antisemitismusbeauftragten ein Dossier mit Vorschlägen für Straßen-Umbenennungen in Berlin vorgelegt, die einen antisemitischen Bezug haben.

Auf 340 Seiten benennt er 290 Namen von mehr als 10.000 Straßen und Plätzen in Berlin, die nun weiter wissenschaftlich erforscht, kontextualisiert oder umbenannt werden sollen. In fast der Hälfte aller Fälle plädiert er für eine Streichung der Namensgeber, unter ihnen herausragend Martin Luther und Richard Wagner. Ein Aufschrei in der Tagespresse und erste Reaktionen in den für Umbenennungen zuständigen Berliner Bezirken finden breites Echo in der Öffentlichkeit, in überregionalen Zeitungen und Medien. Die Debatte gewinnt immer mehr an Fahrt.

 

 

 

 

Prominente Namen auf der Streichliste

 

Bei der Durchsicht der überwiegend prominenten Namen aus über 500 Jahren deutscher und europäischer Geschichte verschlägt es einem den Atem, alles Antisemiten? Der Autor beginnt mit A wie Adenauer, zu B folgt Bismarck und dann zu C Kurfürst Cicero, so geht es das ganze Alphabet rauf und runter. Auch Friedrich-Ludwig-Jahn, der Turnvater, ist dabei. Zu den gefährdeten Namen gehören Philosophen wie Kant, Hegel, Herder, Schleiermacher, Schopenhauer und Voltaire, Dichter wie Fontane, von Fallersleben, Mann und sogar Goethe, Pädagogen wie Pestalozzi und Spranger, Theologen wie Bodelschwingh, Calvin, Harnack, Kolping, Melanchthon und Niemöller, Industrieelle wie Siemens, Ford und Porsche, Sportler wie Harbig und Rosemeyer. Auch das Ausland ist vertreten, so Alfred Nobel, Eugen Pacelli (Pius XII) und Charles Lindbergh, aber auch Charles de Gaulle, Olof Palme und Pierre de Coubertin. Der Ehrenbürger Berlins, Bischof Otto Dibelius, soll wegen früher antisemitischer Äußerungen nicht mehr durch eine Straße geehrt werden. Ein besonderer Verdachtsfall ist Konrad Adenauer, dessen lebenslange Äußerungen auf die Goldwaage gelegt werden und der NS-Belastete als Bundeskanzler in seinem Umfeld toleriert haben soll. Adenauer war schon bei der Diskussion um Straßennamen im Afrikanischen Viertel in Wedding und den durch Deutsche verübten Kriegsverbrechen im Gespräch, da er bis 1933 Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft war. Ein klammes Gefühl bekommt man, wenn Widerständler des 20. Juli wie von Stauffenberg, Goerdeler, Hofacker und von Hassel auf der Liste stehen und ein von der DDR aus West-Berlin entführter Dr. Linse in Moskau hingerichtet wurde.

Im Vorspann zu jedem Namen führt Dr. Sassmannshausen den von ihm „Ermittelten Wissensstand“ an. Er ist grundsätzlich für weitere Forschungen offen ist und wirbt ganz besonders für nun zu bildende Bürgerinitiativen. Kriterien für die Kritik und Umbenennung sind beispielsweise nicht die Mitwirkung am Holocaust, sondern auch die Zugehörigkeit zu Parteien und Institutionen, die sich antisemitisch geäußert haben, z.B. die Deutschnationale Volkspartei, die Konservative Partei, die Vaterlandspartei und der deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband. Auch die 1811 in Berlin gegründete christlich-deutsche Tischgesellschaft soll hinsichtlich ihrer Mitglieder noch weiter erforscht werden, so wegen des Ausschlusses von getauften oder konvertierten Juden. Die von den West-Alliierten nach 1945 abgelehnte Gleichsetzung von Mitgliedschaften in NS-Organisationen mit den NS-Verbrechen verfolgt der Autor nicht. Auch einen Status von „Mitläufern“ wie bei der Entnazifizierung gibt es nicht. Bei den Kurfürsten von Brandenburg greift der Autor bis ins 14. Jahrhundert zurück und erinnert an Pogrome in der Mark Brandenburg und Mecklenburg. Auch Straßen mit Bezügen zu den Hohenzollern, so Kaiserdamm, Kaiserstraße und Kronprinzenallee sowie nach königlichen Vornamen wie Friedrich, Oskar, Wilhelm, Auguste-Viktoria und Cecilie benannte Straßen sollen wegfallen, egal welcher Namensträger konkret gemeint ist. Im Rückblick auf die Geschichtsepochen unterscheidet Dr. Sassmannshausen zwischen antijüdischem, früh- und vor-antisemitischem, antisemitischem, antizionistischem Verhalten sowie christlich-motivierten Antijudaismus.  Die dazu gehörenden Stereotypen, Motive und Ressentiments in Schriften und Vorträgen, aber auch im Denken (!) der Diskreditierten werden im Dossier aufgeführt.

Alle 290 Namen stehen im Internet, davon sollen 101 getilgt und im kollektiven Gedächtnis für immer gestrichen werden. Ein wahrer Bildersturm. Man denkt an die Roten Garden der Kulturrevolution in China, sortiert in Gedanken missliebige Bücher aus und hat Angst, wenn es an der Tür klingelt. Ich erinnere mich an die sechziger Jahre, als ich in meinem Verein den Film „1984“ nach George Orwell aufgeführt hatte und hinterher mit den Jugendlichen diskutierte. Ein Wahrheitsministerium mit der Hauptfigur eines Beamten, der täglich Zeitungsmeldungen fälschen und die Geschichte neu umschreiben musste, begegnete uns damals jenseits der Mauer und des Eisernen Vorhanges. Wir hielten das für den Westteil unserer Stadt und die Bundesrepublik für unmöglich. Womöglich haben wir uns geirrt?

 

Eine Stärkung der Demokratie?

 

Dr. Sassmannshausen will mit seinem Dossier – so im Vorspann – eine breite öffentliche Debatte über antijüdische und antisemitische Bezüge in unserer Gesellschaft auslösen. Damit soll zur politischen Bildung der Bevölkerung und Stärkung der Demokratie beigetragen werden. Erforderlich ist für ihn ein Zusammenspiel zwischen Politikern und Wissenschaftlern, aber vor allem die Mitwirkung der in den betreffenden Straßen wohnenden Bürgerinnen und Bürger. Er denkt dabei an die Gründung von Stadtteilinitiativen, die in Kooperation mit Geschichtswerkstätten und freien Trägern sowie den Selbstverwaltungsorganen der Bezirke tätig werden – also ein umfassend pädagogisch-politisches Konzept. Die möglichen Vorgehensweisen und Ergebnisse ordnet er auf einer Skala von niedrig bis hoch ein: Angefangen bei weiteren Recherchen und wissenschaftlichen Forschungen, einer Kontextualisierung im Internet und dem Anbringen von Tafeln und QR-Codes an Straßenschildern sowie der Umbenennung als härtester Sanktion. Zuständig für Umbenennungen in der Hauptstadt sind die 12 Berliner Bezirke, hier soll die aufgeschreckte Öffentlichkeit auf die Bürgerdeputierten und Bezirksverordneten sowie deren Fraktionen Druck ausüben.

 

Luther und Wagner ganz vorn

 

Spektakuläre Umbenennungen sind Martin Luther und Richard Wagner, die ganz vorn auf der Streichliste stehen. Der Autor begründet das „mit dem bei ihnen wissenschaftlich nachgewiesenen Antisemitismus“. Bei Martin Luther sind sechs Straßen und zwei Plätze betroffen, auch Junker Jörg und der Name seiner Frau, Katharina von Bora, sollen im Straßenbild verschwinden. Das Berliner Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ hatte sich bereits 2017 zum 500. Jubiläum der Reformation mit Luthers Schriften gegen die Juden auseinandergesetzt und die Verbindungen des Reformators und der Kirche zum Nationalsozialismus wissenschaftlich in Ausstellungen und Vorträgen untersucht. Alle pädagogischen und staatsbürgerlichen Maßnahmen sollten erlaubt sein, sich kritisch und allgemeinbildend mit Luther auseinanderzusetzen und über Schuld und Verantwortung zu sprechen. In meinem Bezirk – Reinickendorf im Norden Berlins – hat Superintendentin Beate Hornschuh-Böhlke zu dem neuen Dossier Stellung genommen und auf das Luther-Jahr hingewiesen: „Luther war nicht Antisemit, sondern Antijudaist. Sein Reformwerk überwiegt. Er hat an keiner einzigen Stelle die Vernichtung der Juden befürwortet. Er hat aus religiösen Gründen den Katholizismus und die Muslime genauso wie das Judentum bekämpft. Die in seinen letzten drei Lebensjahren entstandenen unsäglich polemischen und fanatischen Texte gegen die Juden sind eine Katastrophe für die Evangelische Kirche und wurden in der NS-Zeit groß herausgestellt“. Sie ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft gegen eine Umbenennung und schlägt eine Kontextualisierung vor, geht also den pädagogischen Weg.

 

Ähnliches soll mit Richard Wagner geschehen. Hier droht neben dem Wegfall der Richard-Wagner-Straße und des Richard-Wagner-Platzes auch eine nach seiner Frau Cosima benannte Straße. Seine Opern und deren Akteure – Adorno würde es erfreuen – sollen in Sippenhaft genommen und ebenfalls gestrichen werden, so die Rienzi-, Tannhäuser-, Lohengrin-, Stolzing- und Walkürenstraße. Die Wahnfriedstraße nach der Villa Wahnfried soll mit einer Erklärungstafel versehen werden.  Einige Namen aus dem Nibelungenring, Knappenweg, Gralssteig, Alberichweg und Gurnemanzweg, wurden übersehen und dürfen bleiben.

Zum Thema Richard Wagner hat sich der Berliner Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) geäußert: „Ich bin kein Freund davon, die Geschichte aus der Stadt zu tilgen. Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, Wagner in seiner Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen.“ Anders sieht das der Direktor des Berliner Stadtmuseums, Paul Spies: „Wagner war Antisemit, also darf keine Straße, kein Platz mehr seinen Namen tragen. Seine Musik ist davon nicht betroffen“. Man erinnert sich, dass Daniel Barenboim in Israel gern Wagner gespielt und damit gegen ein Tabu verstoßen hat. Was wird nun aus Bayreuth? Eine Möglichkeit zur internationalen Diskussion bietet das Deutsche Historische Museum an: Es zeigt von April bis September die Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“. Da geht es natürlich auch um Wagners Schrift „Die Juden und die Musik“, sein persönliches Verhältnis zu Juden und die Vereinnahmung seiner Musik, Schriften und Familie durch die Nationalsozialisten.

Luther und Wagner haben die Berliner Boulevardzeitungen so aufgeschreckt, dass sie sich auch mit den anderen des Antisemitismus Verdächtigten beschäftigen und die Berliner Bezirke entsprechend ins Visier nehmen. Der Kolumnist, Harald Martenstein, schreibt dazu Anfang Januar im Tagesspiegel: „Wer sich einmal auf die Logik der Aktivisten einlässt, die Gesinnung einst lebender Menschen habe heutigen Maßstäben zu genügen, tadellose Gesinnung sei überhaupt das Wichtigste an einer Person, eine Logik, wie sie seit jeher zu jeder totalitären Ideologie gehört, der wird zur Belohnung mit neuen, immer absurderen Forderungen zugeballert. Im Grunde steht die gesamte europäische Kultur auf der Abschussliste. Und es stimmt ja: Rassismus, also Antisemitismus, war in Europa Mainstream, er wurde sogar an Unis gelehrt und wissenschaftlich begründet“.

 

Der Turnvater – ein antisemitischer Verdachtsfall?

 

Zu den für eine weitere Erforschung und eventuelle Umbenennung Vorgesehenen gehört auch Friedrich-Ludwig Jahn. Ich hatte schon vermutet, seinen Namen auf der Liste zu finden, nachdem 2018 eine vom Senat von Berlin und großen Teilen der Bevölkerung abgelehnte Namensaufhebung des Friedrich-Ludwig-Jahn Sportparks in Pankow gescheitert war (s.a. Jahn-Report 42, Dezember 2018). Die damals vom „SV Roter Stern Pankow“ betriebene Umbenennung lebt nun mit der Initiative „Sport ohne Turnväter“ wieder auf.

In Berlin geht es um sechs Jahn-Straßen und einen Jahn-Platz in sieben Bezirken. Dr. Sassmannshausen versieht jeden einzelnen Standort mit folgender „Handlungsempfehlung“: „Die Initiative ‚Sport ohne Turnväter‘ im Bezirk Pankow, die darauf zielte, den Jahn-Sportpark umzubenennen, ist im Senat gescheitert. Weitere Recherchen sind notwendig, dann gegebenenfalls Umbenennung.“ Eine tolle wissenschaftliche Begründung. Über den Jahn-Sportplatz und die Jahn-Sporthalle in Neukölln sowie die zwei Jahn-Denkmäler in der Hasenheide und in Spandau schweigt der Gutachter.

Zum ermittelten Wissensstand streift Sassmannshausen nur kurz die Turnbewegung und die Biografie ihres Begründers. Die eigentliche Verdammnis Jahns liegt für ihn in dessen Mitgliedschaft im geheimen ‚Deutschen Bund‘ von 1811, der keine Juden und Konvertierte aufgenommen haben soll. Das reicht zum „Antisemiten“ und der öffentlichen Streichung seines Namens.

Historikern sträuben sich die Haare, wenn der Autor als Quellen seiner Forschung Zeitungsartikel der letzten Jahre angibt und auf in anderen Städten erfolgte oder beabsichtigte Umbenennungen verweist. Hier wiederholt sich die über 50 Jahre geführte Diem-Debatte.

Einige seriöse wissenschaftliche Schriften zu Jahn – Puschner, Wehler und Bergmann – führt Sassmannshausen als Quellen ohne nähere Auswertung an. So übergeht er den ausführlichen Beitrag von Werner Bergmann im „Handbuch des Antisemitismus“ über Jahn. Professor Bergmann geht dabei auch auf die früheren Forschungen von Hartmut Becker ein und schließt sich dessen Urteils an, „wenn man bei Jahn nicht von einem ausgesprochenen Judenhass oder Frühantisemitismus sprechen kann, so war er aber auch kein Freund der Juden“. Bergmann berücksichtigt auch ein jüdisches Urteil zu Jahn, wenn er die Jüdische Turnzeitung zum 50. Todestag Jahns 1902 zitiert: „Auf uns Juden ist er nie gut zu sprechen gewesen, alles was nicht ganz deutsch war, bis auf einige antike Beispiele, war ihm in der Seele zuwider“. Kein Feind, aber auch kein Freund – mit dieser Kritik könnten wir in Frieden leben.

In den Medien wird das fälschlich anders gesehen. Hier hält sich das Narrativ des Antisemiten durch den Rückgriff auf die Entwicklung in Österreich, die 1887 mit der Einführung des „Arierparagraphen“ im 1. Wiener Turnverein begann, zur völkischen Turnfehde und Trennung der Österreicher von der Deutschen Turnerschaft führte. Die Vereinnahmung Jahns durch den völkischen-antisemitischen Deutschen Turnerbund in Wien und die 1933 erfolgte Gleichschaltung des Sports in Deutschland durch die Nationalsozialisten hat dieses Narrativ gefördert, so dass es noch heute verbreitet ist. Bergmann hat in seinem Lexikonbeitrag darauf hingewiesen.

Beim letzten Jahn-Symposium in Stuttgart 2019 ist Gerd Steins – der „Kriminalist der Turngeschichte“ – den Fake-News, Verfälschungen und Missdeutungen des Turnvaters akribisch nachgegangen und hat diese im Tagungsbericht (s. Literatur) dokumentiert. Sein Fazit: Friedrich Ludwig Jahn ist eine der widersprüchlichsten Personen der deutschen Zeitgeschichte, gelobt, verehrt, verdammt und verleumdet. Sein Beitrag „Der gefälschte Jahn“ steht inzwischen auch auf der Website der Jahn-Gesellschaft.

Der Berliner Straßenstreit sollte genutzt werden, biografische und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der umfangreichen Jahn-Literatur in einem Frage-und-Antworten-Katalog, das wäre mein Vorschlag, zusammenzufassen und dabei besonders auch dem Vorwurf des Antisemitismus, Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit nachzugehen. Das Jahn-Symposium von 1978 in der Berliner Kongresshalle hat das bereits einmal versucht, Bernett und Becker haben sich mit dem Jahn-Bild der NS-Zeit und der Frage nach Jahns Antisemitismus beschäftigt.  Ich erinnere mich der Worte des damaligen Bundespressewartes des Deutschen Turner-Bundes, Karl Hoffmann, der Jahn nach dem Deutschen Turnfest postfaktisch als einen Kandidaten für das Europa-Parlament verortete. Das war schon eine starke Aussage, auch wenn es uns schwerfallen würde, Jahn heute einer bestimmten Partei des EU-Parlaments zuzuordnen.

Zu den Fake-News gehört auch die im Internet über Jahn stehende Aussage, Juden sei der Besuch des Turnplatzes verboten gewesen. Dem gegenüber stehen die Erinnerungen des Hasenheide-Vorturners Franz Lieber, des späteren Völkerrechtlers und Beraters von Abraham Lincoln, der über die Teilnahme von jüdischen Turnfreunden bei den Turnfahrten berichtet. Auch ist in den überlieferten Mitgliederlisten des Turnplatzes in der Hasenheide der Name Mendelssohn-Bartholdy nicht zu übersehen. Bekannt ist auch, dass Jahn den jüdischen Arzt Salomon Stiebel – einem Kameraden aus dem Lützower Freikorps – während seiner Tätigkeit als Abgeordneter der Ersten Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt/Main 1848 konsultierte und mit weiteren Parlamentskollegen an dessen Mittagstisch teilnahm.

Tatsache und in der Rezeptionsgeschichte nachlesbar ist, dass Jahn in seinen Schriften und Briefen aggressiv und böse auf Napoleon, Junker, Pfaffen, Jesuiten und Juden geschimpft hat. Das hatte mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu tun, dem Kaiser der Franzosen, gegen den er in den Krieg zog, den Junkern, die ihn verfolgten und verbannten, den Pfaffen und Jesuiten, die Berichte schrieben und ihn bei der Polizei denunzierten, den jüdischen Händlern, denen er auf seinen Wanderungen begegnete. Vielleicht gab er auch einem jüdischen Getreidegroßhändler die Schuld, dass sein Sohn Arnold-Siegfried seine Freyburger Schifffahrtsfirma in den Sand gesetzt hatte und in die USA auswanderte. Hier zeigt die Forschung noch Lücken, aber ist das ein Grund, Jahn jetzt als Täter und Antisemiten von den Straßenschildern zu entfernen?

 

Was ist mit Karl Marx?

 

In der gegenwärtigen Diskussion über das Sassmannshausen-Dossier wird in den Zeitungen und von den Medien eine Frage immer wieder gestellt: Was ist mit Karl Marx?

Karl Marx, der aus einem Rabbinergeschlecht stammende Atheist und Philosoph, hat sich in berühmt-berüchtigten Worten über die „Alltagsjuden“ ausgelassen, indem er ihnen in gehässiger und verletzender Weise den Vorwurf von „Eigennutz, Schacher und Geld“ machte. Er bediente damit die im Bürgertum weit verbreiteten Stereotypen des in Grimms-Wörterbuch beschriebenen „Schacherjuden“. Die Jüdische Allgemeine Zeitung hat diese beschämenden Aussagen im Marx-Jahr 2018 ausführlich kommentiert. Jahns Ausfälle sind dagegen die eines Waisenknaben. Die Berliner Zeitungen weisen auf das Standbild von Karl Marx auf dem im Umbau befindlichen Marx-Engels-Forum hin und fragen nach den beiden Magistralen, die in Neukölln und Mitte – schon zu Zeiten von West- und Ost-Berlin – unverändert seinen Namen tragen. Weltweit wird Marx neben Luther als einer der wirkmächtigsten Deutschen angesehen, der Senat hat keinen Grund, beide aus dem Stadtbild zu tilgen.

 

Straßennamen mit Verfallsdatum?

 

Die durch das Gutachten ausgelösten Diskussionen über ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Ehrungen von Persönlichkeiten und deren sich wandelnde Sicht durch Geschichte und Revolutionen, wechselnde Ideologien und den medialen Mainstream, beschäftigt seit Jahren die Berliner Landes- und Kommunalpolitik. Ging es zuerst um noch nicht erkannte Belastete aus der NS- und DDR-Zeit, so kamen in den letzten Jahren vermehrt Umbenennungen auf Grund von neuen Erkenntnissen zur Kolonial- und Militärgeschichte auf den Tisch, jetzt geht es um Protagonisten, die mit Rassismus und Antisemitismus in Verbindung gebracht werden. Die Politik ist immer gut für neue Diskussionen und Streitfälle, einige sind seit zehn Jahren im Gespräch. So die überfällige Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin-Mitte, einst Wohnsitz von Karl Marx und Dienstanschrift der Bundesjugendministerin Angela Merkel. Der Komponist Glinka war für eine Umbenennung des dazugehörenden U-Bahnhofs im Gespräch, ist aber an einer von ihm geschriebenen Oper mit antijüdischen Klischees gescheitert. Eine afrikanische Persönlichkeit, Mann oder Frau, wird jetzt gesucht. Bisher ohne sichtbares Ergebnis.

Seit einem Jahr gibt es in Berlin auch wieder Diskussionen über den Denkmalschutz des Olympiageländes, die dort stehenden Skulpturen und aus der Kaiserzeit und Weimarer Republik stammenden Straßennamen. Hier liegt ähnlich des Sassmannshausen-Dossiers ein Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München vor. Als Fazit werden dort 12 Straßen und Plätze kritisch gesehen und Umbenennungen vorgeschlagen. Mehrere Akteure des Sports sind dort auf Straßenschildern und Bronzeplaketten bisher verewigt. Im Fall von Friedrich Friesen wird eine eventuelle Umbenennung einzig und allein damit begründet, dass sich die Stiftung der AfD in Sachsen-Anhalt seines Namens bedient hat. Es befremdet, dass Jahn vom IfZ durchgehend als „Deutscher Nationalist“ bezeichnet wird, als wenn es ein deutsches Einigungsbestreben niemals gegeben hätte. Zum Werden der Nation der Deutschen liegen genügend seriöse wissenschaftliche Untersuchungen vor, von ganz links bis ganz rechts, von Peter Brandt über Heinrich August Winkler bis zu Hellmut Diwald. „Nationalist“ wird vom IfZ als Schimpfwort genutzt, ich frage mich, was in Europa gerade passiert. Der von Hans-Jürgen Schulke gewählte Titel seines Jahn-Buches „Der erste Deutsche“ klingt da sehr viel positiver und friedlicher. Das Münchener Gutachten steht auf der Agenda weiterer Tagungen, es ist durch Corona und die Neuwahlen in Berlin etwas in Vergessenheit geraten.

Das in Berlin (und anderswo) bestehende Dilemma mit unpassenden und politisch nicht mehr korrekten Straßennamen löst in der Öffentlichkeit, den Medien und vielen Leserbriefen unterschiedlichste Reaktionen aus.  Als Vorschlag für zukünftige Straßenbenennungen wird ein „Verfallsdatum“ ins Gespräch gebracht, also eine Ehrung auf Zeit. Ähnliches gibt es bei Ehrengrabstätten, wo regelmäßig – auch dem Sparsamkeitsgebot der Finanzhaushalte folgend – nachgefragt wird, ob noch jemand den/die Bestattete(n) kennt und ein weiteres öffentliches Interesse an einer Ehrung besteht. Goethe, Luther, Wagner und Jahn hätten da gute Karten. Zur Vermeidung des durch den Zeitgeist bedingten Ärgers bei an Personen gebundenen Straßennamen käme auch eine unverdächtige Namensgebung nach Blumen, Vögeln und Tieren infrage, auch eine Nummerierung wie in den USA wäre der Sache dienlich. Ich glaube, dass kommunale Politikerinnen und Politiker dann mit hochherzigen Initiativen für Ehrungen auf Straßenschildern in den Medien nicht mehr auf sich aufmerksam machen könnten, das liefe ihrer Karriere zuwider.

 

Faktencheck mit Primärquellen

 

Es ist an der Zeit, dass sich der Sport und seine Historikerinnen und Historiker zu Wort melden und Falschmeldungen im Sinne der von Gerd Steins vorgenommenen Recherchen auf den verschiedenen Ebenen wissenschaftlich und medial untermauern. Ein im Internet zu Jahn abzurufender Faktencheck wäre ein guter Weg und Beitrag zu Objektivität und auch Toleranz.

In einem Video-Kolloquium der Universität Münster wurde darüber erstmals am 20. Dezember 2021 diskutiert. Die 12 Diskutanten waren über die Rigorosität des Dossiers schockiert und forderten spontan eine Abgrenzung zwischen dem zum Holocaust führenden Antisemitismus und dem weit verbreiteten Anti-Judaismus des 18. Jahrhunderts. Sie wandten sich gegen die Diskreditierung und Herabwürdigung eines so großen Personenkreises, bezeichneten das Dossier als populistisch und verlangten Beweise für behauptete Verstöße gegen die Menschenrechte.

Aufgabe der Sport- und Zeitgeschichte sollte es sein, Fakten zu sichern, Primärquellen sichtbar zu machen und im Laufe der Zeit vorgenommene Fehlinterpretationen zurückzunehmen oder kritisch zu hinterfragen. Das Dossier des Berliner Senats kann dazu eine Anregung sein, kein Verdikt und schon gar kein Fahrplan für die Kommunalpolitik.

Ich schließe mich gern dem Urteil von Jutta Braun, der Vorsitzenden des Zentrums Deutsche Sportgeschichte an, wenn sie die Frage stellt: „Wenn wir jetzt Denkmäler und Straßennamen entfernen, worüber können wir dann zukünftig mit jungen Menschen diskutieren?“  In diesem Sinne ist jeder Straßenname ein authentischer und öffentlicher „Ankerpunkt“ für die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Das sollte auch beim Berliner Umbenennungsstreit weiterhin im Vordergrund stehen. Das einige vertraute Namen nach neuesten Erkenntnissen dabei vielleicht fallen können, ist gesetzt und selbstverständlich, aber nicht im beschriebenen Umfange notwendig.

 

Literaturhinweise:

 

Christine Achinger; Wagners Judenthum als Rassifizierung der Kulturindustrie. In: Deutsches Historisches Museum. Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“. Berlin (2022)

Hans-Joachim Bartmuß, Eberhard Kunze, Josef Ulfkotte; Turnvater Jahn und sein patriotisches Umfeld. Köln (2008)

Hartmut Becker; „War Jahn Antisemit?“ In: Internationales Jahn-Symposium Berlin 1978, Köln (1979)

Werner Bergmann; Friedrich Ludwig Jahn. In: Wolfgang Benz (Hsg.): Handbuch des Antisemitismus, Band 2/1. Berlin (2009)

Herfried Münkler; Groll, Verachtung, Ekel. Richard Wagners notorische Ambivalenz gegenüber gesellschaftlichem Wandel. In: Deutsches Historisches Museum. Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“. Berlin (2022)

Felix Sassmannshausen; Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin. Im Internet abrufbar unter www.berlin.de zum dossier_strassennamen-barrierefrei.pdf.

Gerhard Scheit; Die Verkörperung des Geldes. „Judenfrage“ in der Philosophie und Judenthum in der Musik. In: Deutsches Historisches Museum. Karl Marx und der Kapitalismus. Katalog der DHM-Ausstellung. Berlin (2022)

Gerd Steins; Der gefälschte Jahn. Anmerkungen zur Umbenennungsdebatte des Jahn-Sportparks in Berlin. In: Michael Krüger/Gerd Steins (Hsg.); Flegel, Sonderling und Turnvater. Vom Umgang mit Friedrich-Ludwig Jahn (Jahn-Symposium 2019), Band 3 der Geschichte der Körperkultur in Studien und Materialien, Hildesheim (2022)

Stiftung Topographie des Terrors; „Überall Luthers Worte…“ Martin Luther im Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung. Berlin (2017)

 

Manuskript der Langfassung vom Frühjahr 2022.

 

 

 

Erstveröffentlichung

der Kurzfassung

im Jahn-Report Nr. 55

vom Dezember 2022.

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